Angst, Hass und Ignoranz: Kremlnahe Desinformation hat LGBTIQ+-Community im Visier
Für seine echten und erfundenen Feinde hat der Kreml viele Namen. Manche nennt er Nazis. Andere betitelt er nebulös als „globale Eliten“’. Auch gegen die Bürokraten in Brüssel wird gelegentlich gewettert. Um Gegner zu dämonisieren, zielen die kremlnahen Desinformationsprofis gern unter die Gürtellinie. Der Kreml macht es ganz deutlich: Wer Putins Vision für Russland nicht unterstützt, gehört höchstwahrscheinlich zu den stolz dekadenten Anhängern der LGBTIQ+-Community. Und in der verdrehten Weltsicht des Kremls ist LGBTIQ+ fast immer gleichbedeutend mit moralischem Verfall.
Die Verunglimpfung von LGBTIQ+-Personen zum Zweck der politischen Selbstdarstellung fügt sich nahtlos in die Desinformationspolitik des Kremls ein. Putin stilisiert sich seit Langem schon zum Verfechter „traditioneller Werte“ auf der ganzen Welt. Mit lässiger und erschreckender Ignoranz setzte er in der Vergangenheit zudem Homosexualität mit Pädophilie gleich. Entrechtete Gruppen oder Minderheiten für seine Zwecke zu missbrauchen ist eine häufig angewandte Taktik des Kremls. So diffamieren kremlnahe Propagandisten routinemäßig – je nach Zusammenhang und dem jeweiligen Ziel Russlands – Migranten und beschuldigen andere, diese zu misshandeln.
Kremlnahe Medien und Kommentatoren arbeiten auf vielfältige Weise mit Angst, Hass und Ignoranz, um schädliche Stereotypen über die LGBTIQ+-Community zu verbreiten. Im Folgenden gehen wir auf drei der bekanntesten ein. Vorsicht: Einige Beispiele sind ziemlich extrem.
Der Westen treibt angeblich die „LGBTIQ+-Agenda“ voran
Der bekannteste Anti-LGBTIQ+-Desinformationsnarrativ lautet: Der Westen versucht, alles zu zerstören, was gut, normal und anständig ist, indem er die „LGBTIQ+-Agenda“ aktiv vorantreibt. Zu den „westlichen Schurken“, die diese angebliche Agenda oder „Gender-/LGBTIQ+-Ideologie“ propagieren, gehören unter anderem EU-Amtsträger, EU-Institutionen, die westliche Kultur, die Vereinten Nationen, McDonald’s, George Soros, der Feminismus und Barbie.
Die Stimmen aus dem Kreml-Umfeld liefern jedoch nie eine klare Definition dessen, worin diese Agenda oder Ideologie eigentlich bestehen soll. Meistens ist die Erwähnung dieser „Agenda“ nichts anderes als ein Versuch, krude Assoziationen mit Pädophilie hervorzurufen. Diese Undifferenziertheit ist beabsichtigt. Denn schwammige Begriffe haben bei vorurteilsbeladenen Lesern den Effekt, deren eigenen düsteren Fantasien anzuregen.
Die Vorstellung, die dahintersteckt, ist folgende: Die Tatsache, dass die EU versucht, die LGBTIQ+-Community vor jeglicher Verfolgung zu schützen, zerstört irgendwie die „traditionellen Werte“, auf denen die EU angeblich gegründet ist. Einige kremlnahe Medien behaupten, die EU wolle das Christentum abschaffen, und setzen jegliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Islamophobie, Rassismus, Homophobie und Antisemitismus mit einer antichristlichen Politik gleich – eine Behauptung, die viele Christen beleidigen würde. Und manchmal wird die LGBTIQ+-Community auch mit Kriminalität und Drogenkonsum in einen Topf geworfen.
Kremlnahe Medien stellen darüber hinaus nicht-westliche – vor allem afrikanische – Länder oft als heldenhafte Verteidiger gegen den Angriff der westlichen Regenbogenfront dar. Für den Kreml ist der Einsatz für die Gleichberechtigung von LGBTIQ+-Personen eine Form des Neokolonialismus durch „Gayropa“: eine Art Kolonialisierung durch den moralisch verkommenen Westen.
Im Rahmen dieser „Neokolonialismus“-Anschuldigungen wird den westlichen Nationen häufig vorgeworfen, sie wollten, dass Afrika den Westen in Bezug auf die „Schwulenrechte“ kopiere – eine grobe Fehldarstellung des Grundgedankens, dass LGBTIQ+-Rechte eine Frage der Menschenrechte sind. Kremlfreundliche Desinformationskanäle sind eifrig dabei, unter dem Deckmantel der „traditionellen Werte“ homophobe Tendenzen zu verstärken und unbegründete Anschuldigungen und Verschwörungstheorien gegen alle westlichen Organisationen, einschließlich der NATO, zu verbreiten.
Kapital schlagen aus dem „Kulturkampf“
Einige kremlnahe Sender dämonisieren LGBTIQ+-Personen unter anderem unverhohlen als degenerierte Menschen, die unter anderem eine Bedrohung für traditionelle Gesellschaften, ihre religiösen Werte und ihre Kinder darstellen. Andere, vor allem diejenigen, die eine gewisse internationale Anerkennung genießen, wie der berüchtigte Propagandasender RT, vermeiden es in der Regel, dieses Narrativ offen zu verbreiten – vielleicht aus Angst, ein anspruchsvolleres Publikum zu verprellen.
Stattdessen versuchen sie, sogenannte „Kulturkampf”-Themen aufzugreifen und die Debatte zu verschärfen. Das geschieht insbesondere durch die Verunglimpfung und Ächtung von Transgender-Personen, die als Bedrohung für Kinder und das männliche/weibliche Geschlecht als solches angesehen werden.
Eine weitere Taktik ist die Behauptung, die Anerkennung von Transgender-Personen und der „LGBTIQ+/Gender-Ideologie“ führe zur Zerstörung der Familie an sich. Ein kremlfreundliches Medium, das sich an ein italienisches Publikum wendet, erklärte beispielsweise, dass „Elternteil Nr. 1“ und „Elternteil Nr. 2“ Mamas und Papas ersetzt hätten – mit dem Ziel, die traditionelle Familie zu zerstören. Damit wird im Wesentlichen eines der vorherrschenden prorussischen Desinformationsnarrative zur LGBTIQ+-Community nachgebetet, das Putin selbst Monate zuvor verbreitet hatte.
„Kulturkampf“-Themen werden von kremlfreundlichen Medien auch für das inländische Publikum aufbereitet, doch oft in viel gröberer Form. Erfahrungsgemäß wird der Hass auf die LGBTIQ+-Community umso offenkundiger, je mehr man sich dem Kreml nähert. Nehmen wir ein Beispiel aus „Argumente und Fakten“ (Аргументы и факты), einer Boulevardzeitung im Besitz der Moskauer Regierung: Sie behauptet, dass Kinder in Kanada gezwungen würden, ihr Geschlecht zu ändern und „alles abzuschneiden, was hängt“. Mit solch plumper Sprache werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen dämonisiert sie die LGBTIQ+-Community und zum anderen trägt sie dazu bei, das Bild eines barbarischen, „perversen“ Westens zu zeichnen.
Russland, das Bollwerk für Traditionen und Heterosexualität
Kremlfreundliche Kommentatoren lassen kaum eine Gelegenheit aus, Russland und Putin als Verteidiger der traditionellen Werte darzustellen. Staatlich kontrollierte russische Medien berichteten ausführlich über ein Gesetz zum Verbot geschlechtsangleichender Operationen, das Putin erlassen hatte. Wie gewohnt lobten sie den russischen Staat dafür, dass er die russische Gesellschaft von der „LGBTIQ+-Agenda“ gereinigt habe.
Kremlnahe Medien propagieren in Bezug auf Russland auch gerne das Bild des Beschützers „traditioneller Werte“, indem sie berichten, dass genervte Westler nach Russland zögen, um der LGBTIQ+-Attacke im Westen zu entkommen. Einige bringen LGBTIQ+ sogar in Zusammenhang mit Totalitarismus und behaupten, Russland kämpfe nun gegen den „Welttotalitarismus“, der sich in einer LGBTIQ+-freundlichen Politik ausdrücke.
Vom moralischen Kampf zum tatsächlichen Krieg
Immer häufiger betrachten kremlfreundliche KommentatorInnen diese moralische Auseinandersetzung als Teil eines echten Kriegs – Russlands groß angelegter Invasion in der Ukraine. In dieser düsteren, paranoiden Weltsicht sind Nazis und LGBTIQ+-Menschen ein- und dasselbe, zum Beispiel in der belarussischen Propaganda, die Oppositionelle des Regimes als „homofaschistischen Abschaum“ bezeichnet. Einige kremlnahe Medien gehen noch weiter: Sie behaupten, der Krieg werde ausgetragen zwischen denjenigen, die stolz Männlichkeit unterstützen (sprich: Russen) und denjenigen, die wollen, dass eine moralisch verwahrloste, geschlechtslose Masse von LGBTIQ+-Personen die Welt regiert (sprich: die Ukraine und ihre Unterstützer).
Prorussische Kanäle, die die Ukraine im Visier haben, werden nicht müde, sich über einen transidenten ukrainischen Soldaten lustig zu machen und ihn in den sozialen Medien als „Freak-Sodomiten“ und „Symbol für die Ukraine“ zu verunglimpfen. Im Rahmen der Desinformationskampagnen wird außerdem behauptet, dass 50 000 LGBTIQ+-Personen in der ukrainischen Armee kämpfen, angeblich ein Beweis für „den Verfall der ukrainischen Gesellschaft“.
Keine dieser Verleumdungen hat irgendetwas mit der Realität zu tun. Sie spiegeln vielmehr die eigenen „Werte“ des Kremls und die Art von konspirativem Denken wider, das die schlimmsten vorstellbaren Beleidigungen auf seine Gegner projiziert. Das Ergebnis ist ein geistiges Gefängnis, dessen Mauern umso stärker sind, da sie von den Gefangenen selbst errichtet werden.
Um die Narrative besser zu verstehen, die vom Kreml und anderen Akteuren gegen die LGBTIQ+-Community eingesetzt werden, lesen Sie unseren jüngsten Bericht: Foreign Information Manipulation and Interference (FIMI) targeting LGBTIQ+ people: Well-informed analysis to protect human rights and diversity. Dieser Bericht ist das erste Dokument zu Informationsmanipulation und Einflussnahme aus dem Ausland, die sich ausschließlich gegen LGBTIQ+-Personen richtet. Er enthält konkrete Fälle aus der ganzen Welt. Das Dokument soll Menschen, die die LGBTIQ+-Community schützen wollen, über Informationsmanipulation und Einflussnahme aus dem Ausland sowie über Taktiken, Techniken und Prozesse aufklären, mit denen die LGBTIQ+-Community angegriffen wird. Es soll sie dabei unterstützen, angemessen auf solche Angriffe zu reagieren.