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Der Tag des Sieges am 9. Mai in der ehemaligen UdSSR und in Russland

Mai 08, 2023

Seit 2008 werden die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland alljährlich abgehalten und haben sich zu dem entwickelt, was einige Beobachter der russischen Opposition als „Siegeswahn“ (победобесие) bezeichnen. Das Ausmaß und die Intensität, mit denen der Zweite Weltkrieg und der Kreml als ewiger Verteidiger gegen den „Nazismus“ verherrlicht werden, sind beispiellos geworden. Das war jedoch nicht immer so.

Vier Paraden während der Sowjetzeit

In der Sowjetunion wurde das öffentliche Gedenken an den Tag des Sieges nur verhalten begangen, insbesondere vor 1965. Am 9. Mai 1945 wurde in Moskau mit einem großen Feuerwerk an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erinnert, und am 24. Juni 1945 fand auf dem Roten Platz eine historische Siegesparade statt. Im Jahr 1945 wurde der 9. Mai in der UdSSR als gesetzlicher Feiertag eingeführt, was er jedoch nur bis 1947 blieb. Unmittelbar nach dem Krieg waren die sowjetischen Behörden und die Bevölkerung offenbar der Ansicht, dass es am 9. Mai wenig zu feiern gäbe. Der Sieg war errungen, doch zu einem schrecklichen, katastrophalen Preis. Das sowjetische Volk hatte diesen Krieg mit zig Millionen Verlusten, enormen Zerstörungen und viel Leid bezahlt, vor allem in den westlichen Teilen, darunter die Ukraine und Belarus. Vor diesem Hintergrund war der 9. Mai bis 1965 ein regulärer Arbeitstag.

In den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten gab es keine großen öffentlichen Gedenkfeiern zum Tag des Sieges. Die Parade fand nur einmal im Jahr 1945 statt. Der heute von den russischen Staatsoberhäuptern verbreitete Slogan „Wir können des wiederholen“ wäre als barbarisch und inakzeptabel betrachtet worden, da die Gesellschaft jahrelang durch den Krieg traumatisiert war.

Die Breschnew-Jahre

Im Jahr 1965 erklärte das sowjetische Staatsoberhaupt Leonid Breschnew den Tag des Sieges zum gesetzlichen Feiertag. Am 9. Mai 1965 organisierte er die zweite Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau. Offenbar beschlossen die sowjetischen Behörden, den „Patriotismus“ stärken und die Sowjetunion mithilfe des Siegs über den Nationalsozialismus glorifizieren zu wollen. So dauerte es zwei Jahrzehnte, bis die UdSSR die enorme Katastrophe, die der Zweiten Weltkrieg verursachte, verarbeiten konnte. Seit 1965 wurde der Tag des Sieges zunehmend als „fröhlicher“ Feiertag begangen.

In der Geschichte der Sowjetunion gab es nur vier Militärparaden auf dem Roten Platz: 1945, 1965, 1985 und 1990. Eine Militärparade zum Gedenken an den Tag des Sieges war etwas sehr Seltenes und Ungewöhnliches. Dieser Tag wurde hauptsächlich mit zivilen Paraden, Feuerwerken, Gedenkveranstaltungen und Zusammenkünften mit Veteranen begangen.

Tag der Oktoberrevolution

Es sei daran erinnert, dass während der gesamten Geschichte der Sowjetunion seit 1918 der Jahrestag der Oktoberrevolution ihr wichtigster politischer Feiertag war, welcher am 7. November begangen wurde. An diesem Tag veranstaltete die UdSSR jährlich ihre wichtigste Militärparade auf dem Roten Platz und stellte ihre militärische Macht als integralen Bestandteil der Sowjetkultur zur Schau. Die Hauptbotschaft bezog sich nicht auf den 9. Mai, sondern auf die Ausbreitung des Kommunismus und die Unvermeidlichkeit der kommenden Weltrevolution.

Putin und der „Siegeswahn“

Wladimir Putin kam im Jahr 2000 an die Macht. Seit 2007–2008 haben sich die russischen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges grundlegend verändert. Putin, der mit seiner berüchtigten Rede in München 2007 offen eine geopolitische Ansage gegen das machte, was er als „westliche Dominanz“ betrachtete, beschloss, den Tag des Sieges als Kernelement seiner inländischen Propaganda zu nutzen. Dies sollte den „Patriotismus“ fördern, das russische Militär glorifizieren und die Öffentlichkeit gegen die westliche „Bedrohung“ für Russland mobilisieren.

Fundamentale Veränderungen unter Putin seit 2008

Unter Putin haben sich die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in mehrfacher Hinsicht grundlegend geändert:

Vor 2008 wurde am Tag des Sieges in erster Linie den Opfern und Veteranen des Zweiten Weltkriegs gedacht. An diesem Tag gedachte die Gesellschaft allen Gräueltaten des Krieges und dem Heldenmut der Überlebenden, die ihre schrecklichen Erinnerungen mit der Botschaft teilten, dass so etwas nie wieder geschehen darf.

Nach 2008 – und nach Russlands Krieg gegen Georgien im August desselben Jahres – veränderte sich der Gedanke hinter dem Tag des Sieges von „Nie wieder“ zu „Wir können es wiederholen“. Unter Putin wurde dieser Tag zu einem aggressiven Ritual, das die militärische Macht Russlands und die Bereitschaft des Kremls, militärische Gewalt gegen seine Gegner einzusetzen, propagiert. Außerdem werden die Kriegsführung selbst und all ihre Gräueltaten verherrlicht.

Neue Rituale

Seit 2008 finden alljährlich Paraden zum Tag des Sieges statt und die Menge der zur Schau gestellten militärischen Ausrüstung hat stark zugenommen. Darüber hinaus begann die russische Luftwaffe, an der Parade in Moskau teilzunehmen. Selbst zu Sowjetzeiten waren Flüge von Kampfflugzeugen über der Hauptstadt Russlands äußerst selten. Außerdem haben die russischen Behörden nach 2008 neue Rituale für den Tag des Sieges erfunden, die zu Sowjetzeiten nicht üblich waren oder zumindest nicht in einem solchen Ausmaß. Zuerst ersetzte Putin alte Sowjetsymbole (die Rote Fahne) durch das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band, das zum Hauptsymbol von Putins eigenem „Tag des Sieges“ wurde, während die Rote Flagge zweitrangig wurde.

Da die meisten Veteranen inzwischen verstorben sind, wurde versucht, den 9. Mai neu zu erfinden oder wiederzubeleben. Die russischen Behörden begannen auch damit, große öffentliche Märsche des sogenannten „Unsterblichen Regiments“ zu organisieren, bei denen normale Russinnen und Russen mit Bildern ihrer Großväter, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, marschierten. Dabei handelte es sich ursprünglich um eine Volksinitiative, die dann vom Kreml übernommen wurde. Bei diesen Märschen des „Unsterblichen Regiments“ versammelten sich Millionen normaler Russinnen und Russen. Sie wurden zu den größten öffentlichen Demonstrationen der jüngeren russischen Geschichte. Viele Menschen nahmen freiwillig an den Märschen teil, doch gibt es auch viele Berichte über Studierende und Schulkinder, die mobilisiert wurden, um mehr Menschen für die Paraden zu gewinnen, die dabei Bilder ihnen unbekannter Personen zeigten, die ihnen von den Organisatoren in die Hand gegeben worden waren.

In diesem Jahr (2023) wurde die groß angelegte Parade des Unsterblichen Regiments am 18. April abgesagt, jedoch durch Aufrufe ersetzt, an virtuellen Online-Paraden teilzunehmen. Möglicherweise fürchteten die Behörden, dass die Parade zu einem Symbol des Dissens werden könnte, wenn die Menschen Bilder ihnen nahestehender Personen zeigen, die bei der „militärischen Spezialoperation“ ums Leben kamen, für die offizielle Opferzahlen nur selten gemeldet und unrealistisch niedrig gehalten werden.

Der Westen wird zum Feind erklärt

Der Hauptslogan von Putins Tag des Sieges ist „Wir können es wiederholen“. Parallel dazu wurde die Bedeutung der Unterstützung mit Material durch westliche Verbündete in den Jahren 1941–1945 immer weiter heruntergespielt. Von der Anerkennung durch Stalin und Chruschtschow „ … Ohne die Maschinen, die wir durch das Leih- und Pachtgesetz erhalten haben, hätten wir den Krieg verloren“ bis hin zur Behauptung, das Leih- und Pachtgesetz „hätte keine entscheidende Rolle gespielt“. Dieser Standpunkt scheint vom Großteil der Bevölkerung aufgegriffen zu werden.

Nun ist also auch der Hauptfeind klar: der heutige „faschistische/nationalsozialistische“ Westen. Putins Propaganda verbreitet immer noch die Botschaft, dass Russland sich nicht davor scheue, einen schrecklichen Krieg mit zig Millionen Opfern und enormen Verlusten und Zerstörungen zu „wiederholen“, nur um seine „Größe“ und seinen „Herrlichkeit“ zu demonstrieren.

Dieser Trend nahm in den 2010er-Jahren zu, insbesondere seit der Invasion und illegalen Annexion der Krim im Jahr 2014. Am 9. Mai 2022, wenige Monate nach dem Großangriff auf die Ukraine, widmete Putin den größten Teil seiner Rede der Verunglimpfung des Westens und der Rechtfertigung der Invasion in der Ukraine.

2022: Weniger militärische Ausrüstung

Das Jahr 2022 markierte einen Wendepunkt in der Quantität und Qualität der militärischen Ausrüstung, die bei den Militärparaden am Tag des Sieges zur Schau gestellt wurde. Kampfflugzeuge nahmen beispielsweise nach Angaben der Behörden aufgrund der „Wetterverhältnisse“ nicht teil. Doch viele erfahrene Piloten und Flugzeuge gingen bei Operationen in der Ukraine verloren. Es bleibt abzuwarten, wie viele Flugzeuge dieses Jahr an der Parade teilnehmen werden.

Dieses Jahr (2023) scheint auch ohne das „Unsterbliche Regiment“ zum Füllen der Straßen eine Sache gewiss zu sein. Putins Reden und Rhetorik werden giftig sein. Wenn die Menge an militärischem Gerät geringer ist als letztes Jahr, wird er versuchen, dies mit Worten zu kompensieren. Der jüngste Zwischenfall mit Drohen über dem Kreml scheint den härteren Ton nur zu verstärken. Einen Vorläufer sahen wir Anfang des Jahres bei seinen Reden auf den Gedenkveranstaltungen zur Leningrader Blockade und der Schlacht von Stalingrad, die er als existenzielle Kämpfe für Russland bezeichnete.