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Desinformation über den aktuellen Russland-Ukraine-Konflikt – Sieben Mythen entlarvt

Januar 24, 2022
7 MYTHEN ÜBER DEN RUSSLAND-UKRAINE-KONFLIKT ENTLARVT

Ein weiterer Tag, eine weitere Lüge über die Ukraine und die aktuellen Spannungen an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine. Seit der illegalen Annexion der Krim 2014 und der laufenden militärischen Aggression gegen die Ukraine führt Russland eine anhaltende und koordinierte vom Staat kontrollierte Desinformationskampagne, die auf die russische Bevölkerung, die Nachbarländer Russlands, die Europäische Union und mehr abzielt, insbesondere zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Unterstützt von Staatsmedien und einem breiteren „Ökosystem“ kremlfreundlicher Medien haben russische Behörden keine Mühen gescheut, die Ukraine zu verleumden, sie als Bedrohung für die globale Sicherheit darzustellen und die internationale Gemeinschaft dafür anzugreifen, die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen zu unterstützen. Die russische Kampagne zielte auch auf die Rolle der Europäischen Union und anderer Beteiligter, insbesondere der NATO, ab und stellte sie fälschlicherweise als angeblich aggressive Bedrohungen gegen Russlands „legitime Sicherheitsbedenken“ dar. Der aktuelle militärische Aufmarsch Russlands, der im Frühjahr 2021 an der ukrainischen Grenze und auf der illegal annektierten Krim begann, hat dieses Sperrfeuer der Desinformation nur noch intensiviert.

In diesem Überblick behandeln wir die häufigsten und gefährlichsten Mythen – und meist glatten Lügen – im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Konflikt.

Mythos 1: „Die aktuellen Spannungen gehen aus dem beständig aggressiven Verhalten der Ukraine und ihrer Verbündeten im Westen hervor. Russland verteidigt lediglich seine legitimen Interessen und ist nicht für diesen Konflikt verantwortlich.“

Falsch. Tatsache ist, dass Russland wiederholt gegen internationales Recht und andere Übereinkommen, denen es sich verpflichtete, verstößt. Mit der illegalen Annexion der Krim und bewaffneten Angriffshandlungen gegen die Ukraine hat Russland, eines der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, gegen mindestens 12 internationale und bilaterale Abkommen verstoßen. Darunter die Charta der Vereinten Nationen, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris für ein neues Europa, welche die souveräne Gleichheit und territoriale Unversehrtheit der Staaten, die Unverletzlichkeit von Grenzen, die Unterlassung von Bedrohungen oder Gewaltanwendungen sowie die Freiheit von Staaten, ihre eigenen Sicherheitsübereinkommen zu wählen oder zu ändern, garantieren.

Anders ausgedrückt sind die Maßnahmen Russlands, die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine zu untergraben und zu bedrohen, insbesondere im Donbas, illegal. Sie bedrohen das Fundament der europäischen Sicherheitsordnung und stellen eine Gefahr für die internationale regelbasierte Ordnung dar.

Was Opfer angeht, so hat die Ukraine schwere Verluste im laufenden Konflikt mit Russland erlitten. Durch die russische Aggression starben etwa 14 000 ukrainische Staatsbürgerinnen und -bürger und viele mehr wurden verletzt. Durch den Konflikt wurden auch über 1,5 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner (Binnenvertriebene) von der Krim und aus der Ostukraine vertrieben.

Mythos 2: „Die Situation in der Ukraine hat diesen Konflikt ausgelöst. Es gibt Beweise, dass die Ukraine Gräueltaten an der Russisch sprechenden Bevölkerung im Osten des Landes verübt. Russland muss eingreifen, nicht zuletzt weil die Ukraine und Russland ‚eine Nation‘ sind. Die Ukraine gehört schlichtweg zu Russlands ‚bevorzugtem Einflussbereich‘.“

Falsch. Anschuldigungen, dass die Ukraine ihre eigenen Gebiete angreift und die eigene Bevölkerung verfolgt, sind absurd. Um Unterstützung für die militärische Aggression Russlands zu erhalten, versuchen die russischen Staatsmedien unermüdlich, die Ukraine zu verleumden mit angeblichem Genozid in der Ostukraine, haltlosen Parallelen mit dem Nazitum und dem zweiten Weltkrieg und fabrizierten Geschichten, die negative Emotionen beim Publikum hervorrufen sollen.

Es gibt viele Beispiele solcher fabrizierter Geschichten, doch das Paradebeispiel ist ein russischer Fernsehbericht vom Beginn des Konflikts, in dem ukrainischen Kräften vorgeworfen wurde, in der Ostukraine einen Jungen zu kreuzigen. Die Geschichte hielt der Tatsachenprüfung nicht lange stand. Ähnliche Geschichten werden noch immer verbreitet.

In Wahrheit gibt es keine Beweise dafür, dass die ukrainischen Behörden Russisch sprechende Einwohnerinnen oder Einwohner oder solche russischer Abstammung in der Ostukraine verfolgen – geschweige denn für Genozid. Das wurde in Berichten des Europarats, des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte und der OSZE bestätigt.

Die oft verwendete Behauptung, die Ukraine und Russland wären „eine Nation“, ist einer der ältesten und am tiefsten verwurzelten Mythen, die gegen die Ukraine eingesetzt werden. Selbst aus einer weit zurückblickenden historischen Perspektive hält dieses Argument nicht stand. Es gibt zwar gemeinsame Wurzeln in der Kiewer Rus, die vom neunten bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts existierte, doch es ist schlichtweg falsch zu behaupten, dass die Ukraine und Russland 800 Jahre später eine Nation sind. Trotz Jahren der Fremdherrschaft verfügt die Ukraine über eine starke nationale Kultur und Identität und ist ein souveränes Land.

Die Idee einer „gesamtrussischen Nation“ ohne politische Grenzen ist eine ideologische Konzeption aus dem imperialen Zeitalter und wird als Mittel eingesetzt, die Souveränität und nationale Identität der Ukraine zu untergraben. Seit 2014 pflegt die russische Regierung diesen Mythos wieder mit neuem Elan in dem Versuch, die militärische Aggression gegen die Ukraine zu rationalisieren und zu rechtfertigen.

Konzeptionen wie ein „Einflussbereich“ haben im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr. Wie alle souveränen Staaten kann die Ukraine ihre eigenen Weg, ihre Außen- und Sicherheitspolitik, ihre Allianzen und ihre Teilnahme an internationalen Organisationen und Militärbündnissen selbst bestimmen.

Um die Idee zu stärken, dass die Ukraine zu Russlands „Einflussbereich“ gehört, behaupten russische Behörden und Staatsmedien regelmäßig, dass die Ukraine kein „echter“ Staat wäre. Die vom Staat finanzierte russische Propaganda will die Geschichte verdrehen und die Idee legitimieren, dass die Ukraine in Russlands natürlichem Interessengebiet liegt.

Mythos 3: „Die Ukraine sollte sich stets an Russland wenden, denn die EU und der Westen haben kein Interesse an dem Land und haben es im Stich gelassen.“

Falsch. Die EU ist in einer strategischen Partnerschaft mit der Ukraine. In Wahrheit ist die Ukraine einer der engsten Partner der EU geworden und die Partnerschaft wurde in den letzten Jahren durch das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine sowie die vertiefte und umfassende Freihandelszone noch gefestigt. Mittlerweile ist die Ukraine der größte Handelspartner der EU mit einem Handelsanteil von über 40 %. Die EU unterstützt im Rahmen der Östlichen Partnerschaft zahlreiche Programme in der Ukraine und bietet auch Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Reformagenda. Seit 2014 hat die EU der Ukraine Darlehen und Zuschüsse in Höhe von 17 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt.

Auch unterstützt die EU seit 2014 nachdrücklich die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen und hat aufgrund der gezielten Destabilisierung der Ukraine einschließlich der Krim restriktive Maßnahmen gegen Russland verhängt. Die EU hilft der Ukraine zusätzlich beim Ausbau der Resilienz gegen Desinformation und Cyberangriffe.

Mythos 4: „Die NATO und der Westen sind Schuld an der aktuellen Krise. Hätten sie sich an ihre Versprechen gehalten, die Allianz nicht zu erweitern, würde Russland sich nicht bedroht fühlen.“

Falsch. Solch ein Versprechen wurde niemals gegeben und auch nicht von der NATO gefordert. Russische Staatsmedien haben oft behauptet, dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wäre „mündlich“ versprochen worden, dass die NATO sich nicht über die Grenzen des wiedervereinten Deutschlands hinaus ausweiten würde. In Wahrheit hat Gorbatschow selbst diese Behauptungen in einem Interview 2014 bestritten und gesagt, dass „das Thema einer ‚NATO-Erweiterung‘ überhaupt nicht besprochen wurde und in den Jahren auch nicht aufkam. Das sage ich mit voller Verantwortung. Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat das Thema angesprochen, nicht einmal, nachdem der Warschauer Pakt 1991 auslief.“

Diese sogenannten verbalen Abkommen sind reine Fiktion. Die NATO-Mitglieder haben nie politisch oder rechtlich bindende Versprechen gegeben, die Allianz nicht über die Grenzen des wiedervereinten Deutschlands hinaus auszuweiten.

Die Behauptung, dass die NATO versprochen habe, sich nicht zu erweitern, ist eine fundamentale Fehldarstellung der Natur der Allianz. Die NATO als Verteidigungsallianz „vergrößert“ sich nicht im imperialistischen Sinne. Entscheidungen über NATO-Mitgliedschaften liegen bei den einzelnen Bewerberländern und den aktuellen 30 NATO-Alliierten. Jeder souveräne Staat kann seinen Weg selbst bestimmen und angrenzende Staaten – in diesem Fall Russland – haben kein Recht einzuschreiten.

Mythos 5: „Wegen der aggressiven Expansion der NATO ist Russland jetzt ‚von Feinden umzingelt‘ und muss sich verteidigen.“

Falsch. Kein Land und keine Allianz plant, in Russland einzumarschieren. Niemand bedroht Russland. In Wahrheit sind die EU und die Ukraine überzeugte Unterstützer der bestehenden europäischen Sicherheitsordnung. Führen Sie sich vor Augen, dass Russland geographisch gesehen das größte Land der Welt ist mit einer Bevölkerung von über 140 Millionen Menschen und über eine der größten Streitkräfte der Welt mit den meisten Atomwaffen verfügt. Es ist absurd, Russland als akut bedrohtes Land darzustellen. Geographisch gesehen grenzt weniger als ein Sechzehntel Russlands an NATO-Mitglieder. Von den 14 Nachbarstaaten Russlands sind nur fünf in der NATO.

Außerdem gibt es keine Auseinandersetzung, die vermuten lässt, dass Militärgewalt die einzige Lösung ist. Es gibt mehrere internationale Organisationen, bilaterale Abkommen und Formate, über die Russland einen kooperativen und friedlichen Dialog eingehen kann – zum Beispiel über den OSZE-Rahmen und Rüstungsbegrenzungsvereinbarungen. Die EU hält als integrativen Teil der Russlandpolitik der EU mit fünf Leitprinzipien die Kommunikationswege mit Russland offen. Es mangelt nicht an etablierten Kommunikationsformaten. Doch als souveräner Staat hat die Ukraine jedes Recht, ihre Politik und Allianzen selbst zu wählen. Die Idee, dass Russland ein Vetorecht über die Souveränität der Ukraine haben sollte, ist haltlos. In dieser Hinsicht behauptet weder die EU noch die NATO, ein Veto abgeben zu können darüber, welche Staaten Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sein dürfen, da die EU und die NATO keine Vertragsparteien sind.

Mythos 6: „Auf jeden Fall ist Russland nicht für die aktuellen Spannungen in der Ukraine verantwortlich. Die Ukraine hat bewusst die Minsker Vereinbarungen gebrochen und der Westen liefert Waffen an die Ukraine. Russland muss schnell handeln, um seine Grenzen zu verteidigen. Die Provokation geht vom Westen aus.“

Falsch. In Wahrheit ist es Russland, das 140 000 Streitkräfte und Ausrüstung an der Grenze zur Ukraine, einschließlich auf der illegal annektierten Krim, versammelt hat.

Russland ist Vertragspartei der Minsker Vereinbarungen und das sind die neuesten formalen Dokumente, in denen Russland die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine bestätigte. Doch Russland hat seine Seite der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen nicht eingehalten. Die russische Seite und ihre Vertreter haben keine Waffenruhe umgesetzt, nicht sämtliche schweren Waffen abgezogen, keinen Austausch sämtlicher politischer Gefangenen durchgeführt und auch kein Angebot humanitärer Hilfe basierend auf einem internationalen Mechanismus sichergestellt. Ganz im Gegenteil, Russland hat die illegalen Truppenformationen in der Ostukraine ausgebaut. Auch ermöglicht Russland keinen uneingeschränkten Zugang für die Überwachung der Sonderbeobachtermission der OSZE für die Ukraine, einschließlich für die Grenze zwischen der Ukraine und Russland, an der die (stark eingeschränkte) Beobachtungsmission aufgrund eines Vetos Russlands im Sommer 2021 abgebrochen wurde.

Ohne die vollständige Umsetzung der Waffenruhe, den Abzug schwerer Waffen sowie uneingeschränkten Zugang zu allen Gebieten für die OSZE-Beobachtermission ist es schwierig, die Umsetzung der politischen Aspekte von Minsk II zu besprechen. Dennoch hat die Ukraine so viel von den Minsker Vereinbarungen umgesetzt, wie vernünftig möglich war ohne Kontrolle über das Gebiet, und ist jeden Punkt angegangen. Sie hat Gesetze zum Sonderstatus und der Amnestie (2014) verabschiedet – und mit Erneuerungen verlängert – und Gesetzesentwürfe zu regionalen Wahlen vorgelegt (2014). Die Ukraine hat Verfassungsänderungen verabschiedet, um den Territorien, die derzeit nicht unter ihrer Kontrolle stehen, mehr Autonomie zu gewähren (2015).

Mythos 7: „Die EU ist in jedem Fall schwach und irrelevant. Warum sollte man überhaupt mit der EU reden?“

Falsch. Der russische politische Apparat hat hart daran gearbeitet, die Welt zu überzeugen, dass die EU schwach ist und kein Interesse daran hat, internationalen Frieden und Sicherheit voranzubringen. Russische Vertreterinnen und Vertreter sowie Staatsmedien stellen die EU regelmäßig als irrelevant und unfähig zur Krisenbewältigung dar, sei es der Russland-Ukraine-Konflikt oder irgendein anderes internationales Problem. Im Januar 2022 hat der Außenminister Sergej Lawrow der EU gar „Machtlosigkeit“ vorgeworfen.

Die Tatsache, dass Europa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs in Frieden lebt, reicht aus, um diese Behauptungen zu widerlegen. Die EU hat, in Zusammenarbeit mit der UN, der NATO, der OSZE, dem Europarat, den G7-Mitgliedern und anderen internationalen Partnern, einen greifbaren Beitrag zum Frieden und der Sicherheit in der weiteren europäischen Region und darüber hinaus, auch in der Ukraine, geleistet.

Die EU ist außerdem die weltweit größte integrierte Wirtschaftszone und der größte Handelspartner der Ukraine. Das ehrgeizige Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine bringt die Ukraine und die EU näher zusammen, indem Reformen in der Ukraine unterstützt, der EU-Binnenmarkt geöffnet sowie Gesetze, Normen und Verordnungen in zahlreichen Bereichen angeglichen werden.