Read this article in EN RU IT ES FR DE

Donbas: Falschmeldungen vor Ort kreieren

April 09, 2021

Margarita Simonyan, Chefredakteurin des russischen Desinformationsmediums RT.com, rief die russische Führung Anfang Februar 2021 dazu auf, die Verpflichtungen des Landes gegenüber dem Völkerrecht, gegenüber bilateralen Abkommen und dem menschlichem Anstand zu verletzen:

Mutter Russland, bring den Donbas nach Hause!

Mutter Russland, vertreten durch den Kreml-Sprecher und die Sprecherin des russischen Außenministeriums, distanzierte sich schnell vom Pathos von Simonyan. Obwohl Simonyan staatlich angestellte Chefredakteurin ist und den Appell auf einem staatlich finanzierten und kontrollierten Fernsehsender ausstrahlen ließ, waren die Worte nichts als ihre eigenen Ansichten. Nicht die Politik Russlands zur Annexion von Nachbarländern.

Derzeit konzentriert Russland beträchtliche Mengen an militärischer Ausrüstung in der Nähe der ukrainischen Grenzen und die Internationale OSZE-Sonderbeobachtungsmission (SMM) berichtet über einen Anstieg von Zwischenfällen in dem von Russland kontrollierten Gebiet. Russland bereitet sich auf eine groß angelegte Militärübung, Sapad 2021, vor. In einigen Analysen wird befürchtet, dass es sich um die Vorbereitung einer Aggression gegen die Ukraine handelt. Der Kreml bestreitet allerdings jegliche aggressiven Absichten:

Die Russische Föderation verlegt ihre Streitkräfte nach eigenem Ermessen innerhalb ihres eigenen Territoriums. Dies sollte niemanden beunruhigen und stellt keine Bedrohung dar.

Die Analyse von Truppenbewegungen überlässt man besser den Militäranalysten, doch die Analyse der Desinformation über die Ukraine in den letzten Wochen lässt interessante Muster erkennen. Desinformative Kräfte des Kremls bereiten den Informationsraum sorgfältig vor:

  1. Bringt den Donbas nach Hause!

Die Chefredakteurin von RT und Sputnik, Simonyan, sieht ihre Sender als Waffen des russischen Staates für einen Informationskrieg. Ihr Aufruf, „den Donbas nach Hause zu bringen“, kann als erster Schritt zur Vorbereitung des Informationsraums angesehen werden. Gebiete eines Nachbarlandes, die von Russland in internationalen und bilateralen Abkommen anerkannt sind, werden als „russisch“ bezeichnet. Ähnliche Fälle in der EUvsDisinfo-Datenbank aus dem Jahr 2021 finden sich hier und hier. Die Menschen im Donbas werden als russische Bürgerinnen und Bürger beschrieben, die zu Unrecht unter einem fremden Joch leiden. Russland sei ihre wahre „Heimat“.

  1. Die Ukraine bereitet einen Genozid vor!

Das kremlfreundliche Desinformationsökosystem verwendet den Begriff „Genozid“ eher großzügig und selten im Einklang mit der international anerkannten Definition in Artikel 2 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Fast jede durch eine souveräne ukrainische Regierung zur Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung ergriffene Maßnahme wird potenziell als „Genozid“ bezeichnet. Der russische Politiker und ehemalige Sprecher des Föderationsrates des Parlaments Sergej Mironow behauptete zum Beispiel, dass die Entfernung eines sowjetischen Kriegsdenkmals in Estland im Jahr 2007 ein „Genozid am russischen Volk“ sei. Jetzt führt die Ukraine „Genozide an russischen Landsleuten in der Ukraine“ durch. Beispiele dafür finden sich hier und hier. In der Regel als Handlanger des Westens. Wir stellen eine solche Behauptung vom russischen Staatsfernsehen hier, auf der Website Ukraina.ru der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti hier und beim staatlichen Sender Sputnik hier fest – alles in weniger als einer Woche.

  1. Die Ukraine bereitet einen Angriff auf den Donbas vor!

Jetzt wird der Begriff „Genozid“ von den Desinformationsstellen des Kremls offenbar als Äquivalent für „zutiefst besorgt“ verwendet. Eine schärfere Formulierung ist ein unmittelbar bevorstehender Angriff. Die staatlichen und nationalistischen Medien Russlands waren voll von Behauptungen über die Ukraine, die sich angeblich auf eine Militäroperation gegen die von Russland kontrollierten Teile des Landes vorbereitet. Beispiele dafür finden sich hier und hier. In der Regel wird die Ukraine von äußeren Kräften – den USA, der NATO, der Türkei – gegen Russland aufgebracht. Nationalistische Medien berichten sehr ausführlich, aber ohne Quellenangaben über ukrainische Pläne für eine Offensive gegen die „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“:

Die NATO-Länder verlegen Militärfahrzeuge in die Ukraine. Diese Information ist im Internet aufgetaucht; Nutzerinnen und Nutzer teilen Screenshots, die Starts von Transportflugzeugen an verschiedenen Standorten zeigen und dem Flugverkehr folgen. Demnach ist ein Transportflugzeug des Typs Lockheed Martin C 130J der US-Luftwaffe von der Ramstein Air Base in Deutschland gestartet und in Sevilla in Spanien zum Auftanken gelandet. Später landete ein zweites Transportflugzeug vom Typ C-17 in Kiew.

  1. Die Ukraine beschießt Dörfer und tötet Kinder!

Die falschen Berichte werden immer detaillierter, die Auflösung des falschen Bildes wird größer. Opfer der angeblichen ukrainischen Aggression ist nicht mehr das abstrakte Kollektiv der „Menschen aus Russland im Donbas“, sondern Personen mit Namen und Altersangaben:

Ein zynischer, vorsätzlicher, grundloser, ekelhafter Mord. Am 3. April wurde der vierjährige Wladik Dmitriev durch einen improvisierten an einer Drohne befestigten Sprengsatz getötet. Er rannte mit seinen Spielsachen in den Garten, während seine Großmutter zurückblieb, um ihre Schuhe anzuziehen. Deshalb blieb sie am Leben und konnte die Explosion hören.

Uneinig sind sich die Sachverständigen bisher nur darüber, ob es sich bei dem Gerät tatsächlich um eine unkonventionelle Sprengvorrichtung oder um ein echtes, werkseitig hergestelltes Kampfmittel aus westlicher Produktion handelte.

Ein unschuldiges Kind, das im Krieg getötet wurde. Eine Tragödie. Ein Verbrechen. In den russischen staatlich kontrollierten Medien kursierte eine hochemotionale Berichterstattung, die vom Sprecher der russischen Duma genutzt wurde, um eine Diskussion über den Ausschluss der Ukraine aus dem Europarat zu fordern.

Russische und ukrainische Journalisten haben den Vorfall untersucht, und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Tragödie eine Fälschung zu sein scheint. Für den Kreml und die nationalistischen Medien sind die Begriffe „wahr“ und „falsch“ keine Frage der tatsächlichen Umstände einer Aussage:

Die Liberalen, die nicht daran glauben, dass die Ukraine für den Tod eines Jungen verantwortlich ist, verstehen nicht, wie gefährlich die Situation ist, wenn sie auf Anweisung der NATO „die Agenda vorbereiten“.

Dieser Ansatz ähnelt der berüchtigten Geschichte über den „gekreuzigten Jungen“, die die kremlfreundlichen Medien im Jahr 2014 verbreiteten, um beim russischen Publikum Hass gegen die Ukraine zu schüren und die bewaffnete Aggression gegen das Land zu rechtfertigen.

Nach und nach wird das Publikum vorbereitet. Die Menschen im Donbas müssen „heim nach Russland“ kommen. Die Ukraine verletzt die Rechte der Menschen aus Russland, die ein grausames Schicksal in einem fremden Land erleiden. In der Ukraine werden Kinder getötet, in Russland stellt sich die Opposition auf die Seite der NATO. Russland muss handeln!

  1. „Seit heute Morgen erwidern wir das Feuer“

Die kremlfreundlichen Medien haben inzwischen eine Kulisse erschaffen, in der die Ukraine der Aggressor ist. Jede Art militärischer Operation wird als Verteidigungsmaßnahme oder als Maßnahme im Rahmen der Schutzverantwortung beschrieben. Eine Militäraktion wird weit im Voraus gerechtfertigt, vorbereitet durch eine sorgfältig aufgebaute Informationskampagne.

Es besteht keine Möglichkeit, den Ausgang des aktuellen Säbelrasselns vorherzusagen. Die militärische Aufrüstung ist eine dokumentierte Tatsache. Die Desinformationskampagne ebenso. Margarita Simonyan erneuert ihre Aussage aus dem Februar:

Menschen aus Russland, die im Donbas leben, müssen in Russland leben.

Dieses Mal wird ihrer Stellungnahme durch den Sprecher des Kremls nicht widersprochen.