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Eine Lektion aus Russlands Lehrbuch der Informationsmanipulation: Wie man den Schauplatz für einen groß angelegten Raketenangriff gestaltet

Mai 03, 2023

Russland nutzt Informationsmanipulation als integralen Bestandteil seiner Kriegsmaschinerie. Der russische Angriff auf die Region Brjansk im März 2023 ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Kreml Informationsmanipulation mit kinetischen Taktiken verbindet, um maximale Wirkung zu erzielen.

Russlands unprovozierter Krieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, wie russische Informationsmanipulation als integraler Bestandteil der Kriegsmaschinerie eingesetzt wird. Diese Manipulation lieferte einen Vorwand für Russlands groß angelegte Invasion und sorgte später für die Unterstützung der Militärmanöver vor Ort. Der russische Angriff auf die Region Brjansk im März 2023 ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Kreml Informationsmanipulation mit kinetischen Taktiken verbindet, um maximale Wirkung zu erzielen.

Hintergrund

Am 9. März führte Russland einen großen Raketenangriff in 10 ukrainischen Regionen durch, bei dem mindestens neun Zivilisten getötet wurden und Stromausfälle verursacht wurden. Es war die größte Welle von Angriffen seit Mitte Februar. Russland stellte die Operation als Antwort auf einen „terroristischen“ grenzüberschreitenden Angriff ukrainischer Streitkräfte auf die russischen Dörfer Ljubetschane und Suschany am 2. März dar. Die Ukraine wies die Anschuldigung zurück.

Was auf den vermeintlichen ukrainischen Angriff vom 2. März folgte, war ein Versuch kremlfreundlicher Stimmen, in der Informationslandschaft den Grundstein für ihren eigenen Angriff am 9. März zu legen. Im ersten Schritt wurde ein Paar gegensätzlicher Charaktere geschaffen: ein kleiner Held, den die Leute bejubeln, und ein großer Bösewicht, dem die Leute die Schuld geben. Nachfolgend haben die Medien die Botschaften rund um diese beiden Personen durch koordinierte Online-Aktivitäten verstärkt, um Russlands neue Angriffswelle gegen die Ukraine zu legitimieren.

Aufbau der gegensätzlichen Charaktere

Nachdem russische Medien über den angeblichen Anschlag in der Ukraine am 2. März berichtet hatten, machte das kremlnahe Desinformationssystem einen kleinen Jungen, der bei dem Vorfall angeblich verletzt wurde, schnell zum Helden, weil er vorgeblich zwei gleichaltrigen Mädchen das Leben gerettet hatte. Die Medien berichteten, dass die Behörden ihn mit einer Tapferkeitsmedaille auszeichnen würden,er wurde in vielen Videos gelobt, Flugblätter zu seinen Ehren erschienen an den Wänden, Mitschüler seiner Klasse schickten ihm Unterstützungsbotschaften und so weiter. Kremlnahe Medien beharrten darauf, dass seine beiden älteren Brüder derzeit in der Ukraine auf der Seite Russlands kämpfen.

Daraufhin behauptete das russische Außenministerium am 3. März, dass bei dem angeblichen Angriff auf die Ukraine am 2. März NATO-Waffen eingesetzt wurden. Mit diesem Narrativ wurde versucht, die NATO-Verbündeten als „Komplizen und Sponsoren des Terrorismus“ darzustellen. Außerdem behauptete ein kremlfreundlicher Telegrammkanal, dass auf den Straßen gelegte Minen im „NATO-Stil“” ein Auto der Nationalgarde in die Luft jagten. Angeblich wurden vier russische Soldaten verletzt.

Chronologie zweier komplementärer Narrative

2. März
  • 9:29: Eine Nachricht des Gouverneurs von Brjansk wird auf Telegram gepostet. Darin heißt es: „Heute ist eine DRG [Sabotage- und Aufklärungsgruppe] aus der Ukraine in das Gebiet des Klimovsky-Bezirks im Dorf Ljubetschane eingedrungen. Saboteure schossen auf ein fahrendes Auto. Ein Bewohner wurde bei dem Beschuss getötet, ein zehnjähriges Kind verletzt. Das Kind wurde unverzüglich ins Krankenhaus gebracht und erhält alle notwendige Hilfe.
  • 11:30: Das Russische Freiwilligenkorps soll sich zu dem Angriff bekannt haben.
  • 13:00: Putin erklärt den Anschlag zu einem terroristischen Akt.
  • 13:30: Der verletzte Junge wird als Held gefeiert.
  • 17:00: Der Gouverneur besucht den verletzten Jungen im Krankenhaus und behauptet, dass die Waffe, die bei dem Angriff benutzt wurde, von der NATO und das Geschoss aus den USA stamme.
3. März
  • 9:30: Laut einem Telegrammpost wird eine Minenräumungsaktion durchgeführt, weil die Saboteure angeblich NATO-Sprengstoff hinterlassen haben.
  • 14:00: Erste Stimmen werden online laut, dem verletzten Jungen mit Orangen zu huldigen.
7. März
  • Der Gouverneur von Brjansk überreicht dem verletzten Jungen eine Tapferkeitsmedaille.
9. März
  • Das russische Verteidigungsministerium erklärt, dass die Welle von Raketenangriffen eine Reaktion auf den Kampfangriff auf die Region Brjansk am 2. März war.

Verstärkung des Desinformationsnarrativs

Die Strategie der narrativen Verstärkung verknüpft offizielle Reden, lokale Medien und Proxy-Accounts in den sozialen Medien. Anfänglich sorgten Erklärungen von Putin, dem Verteidigungsministerium und dem Gouverneur von Brjansk dafür, dass das Thema stärker in den Blickpunkt rückte, und dienten als Wegbereiter für den Rest des kremlfreundlichen Ökosystems der Desinformation. Accounts auf mehreren großen Plattformen (z. B. Twitter, Facebook, VKontakte) verbreiteten die beiden Narrative weiter, sowohl das des heldenhaften Jungen als auch das der bösen NATO.

Fast unmittelbar nach diesen öffentlichen Erklärungen teilten viele bekannte Accounts diese Erzählungen auf pro-russischen Telegram-Kanälen. Ziel war es, die Informationslandschaft zu überschwemmen: eine Taktik, die von kremlfreundlichen Stimmen oft angewendet wird. Umgekehrt wurden die meisten neutralen, unabhängigen oder kremlfeindlichen Stimmen, die auf die Ungereimtheiten und den propagandistischen Ton der Geschichte hinwiesen, schnell zum Schweigen gebracht.

Auch mehrere Tage nach dem Ereignis versuchten kremlfreundliche Stimmen, das Thema auf Vkontakte am Leben zu erhalten. Sie teilten sogar Screenshots von Tweets, die die Geschichte in Frage stellten, mit der falschen Behauptung: „Dieser Tweet wurde gelöscht.“ Damit versuchten sie, widersprüchliche Aussagen zu diskreditieren.

Screenshot eines Posts vom 2. März von einem Telegram-Nutzer mit dem Namen IntelSlava

Screenshot eines Posts vom 2. März von einem Telegram-Nutzer mit dem Namen IntelSlava

Widersprüche im Held-Bösewicht-Narrativ

Bevor sie einen Helden konstruierten, spielten die kremlfreundlichen Desinformationsspezialisten die Opferkarte aus. In einer ersten Meldung hieß es, ein junges Mädchen sei ins Krankenhaus eingeliefert worden und später an den Folgen der Angriffe gestorben. Erst später begann sich ein Narrativ um einen vermeintlichen Helden zu entwickeln. Demnach rettete ein 10-jähriger Junge, der eine Schussverletzung erlitten hatte, zwei gleichaltrige Mädchen. Der Junge erholte sich verdächtig schnell. Der Angriff, bei dem er angeblich verletzt wurde, fand am 2. März statt. Er war bereits gesund genug, um am 7. März eine Medaille zu erhalten. Das junge Mädchen, das zunächst für tot erklärt worden war, wurde auf wundersame Weise wiederbelebt, verschwand aber bald wieder aus den öffentlichen Nachrichten.

Auch das Narrativ des Bösewichts war sichtbar uneinheitlich. Nachdem die Ukrainer mehrere Kinder getötet, Geiseln genommen (eine Anschuldigung, die später von Kremlvertretern fallen gelassen wurde) und Eigentum zerstört hatten, verließen sie den Schauplatz, ohne einen Schuss abzugeben. Zweitens schwankte die Zahl der Teilnehmer an dem Angriff zwischen 15 und 70, je nach den verschiedenen Stellen. Die Zahl der Geiseln schwankte sogar noch stärker und reichte von 6 bis 100. Es ist wichtig zu wissen, dass das Dorf, in dem das Ereignis stattfand, nicht mehr als 180 Einwohner hat. Es wurden keine Fotos oder Videos von den Angreifern veröffentlicht. Tatsächlich ist der einzige Beweis, der angeblich Ukrainer am Ort des Angriffs zeigt, nur ein Video, auf dem zwei Personen in Militäruniform zu sehen sind, die eine Flagge des russischen Freiwilligenkorps halten.

Der obige Fall ist keineswegs ein Sonderfall. Seit Jahren zeigen EUvsDisinfo und andere Experten auf diesem Gebiet, dass der Kreml Informationen als Werkzeug und Waffe einsetzt. Da die internationale Gemeinschaft immer mehr über Russlands Informationsmanipulationen erfährt, ist der Kreml gezwungen, neue Wege zu gehen. Der verhaltensorientierte Ansatz zum Verstehen, Überwachen und Erkennen von Informationsmanipulation hilft dabei, alle Arten von manipulativem Verhalten zu erkennen und nicht nur Desinformation im engeren Sinne des Wortes.