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Geschichtsrevisionismus: „Polnischer Imperialismus gegen Ukraine und Belarus“

Mai 06, 2023

Inzwischen sollten alle die schrecklichen revisionistischen Behauptungen des Kremls kennen: „Die Ukraine ist ein künstliches Gebilde und kein Staat, sie hat kein Recht zu existieren und muss annektiert/beherrscht werden“, „die ukrainische Kultur sollte zerstört werden“ usw., „ohne Sieg wird es kein Russland geben“. In diesem ausführlichen Artikel betrachten wir Polen und analysieren die Propagandabemühungen des Kremls der letzten Jahre, ihre Wurzeln und ihre Entwicklung. Wir beleuchten Beispiele für die Narrative, die Sprache und den Ton in der sich verändernden politischen Landschaft. Während die verbalen Angriffe vor Februar 2022 bereits schlimm genug waren, hat die gegen Polen gerichtete Propaganda seit Russlands groß angelegter Invasion in der Ukraine weiter an Fahrt aufgenommen.

„Polen ist schuld“

In den letzten Jahren haben kremlnahe Medien Polen wiederholt beschuldigt, verschiedene finstere und aggressive Pläne gegen Belarus und die Ukraine zu hegen, und sie haben das Land als imperialistischen Staat beschrieben, der versucht, seine frühere historische Herrlichkeit wiederherzustellen. Kremlnahen Medien zufolge war und ist Polen imperialistisch und startete sogar den Zweiten Weltkrieg. Solche Anschuldigungen durch den Kreml und sein Ökosystem haben eine lange Geschichte und sind mit Russlands stark revisionistischer Betrachtung der Geschichte verbunden, über die wir hier berichteten. Die Anschuldigungen haben seit Russlands groß angelegter Invasion in der Ukraine im Februar 2022 eine neue Stufe erreicht und gleichen nahezu einer Obsession.

Polens Standpunkt zu Belarus und der Ukraine – die Fakten

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks ist Polen einer der aktivsten Unterstützer der Unabhängig von Belarus und der Ukraine. Seit Beginn der 1990er Jahre wird Polens Politik gegenüber Belarus und der Ukraine durch die sogenannte Giedroyc-Doktrin bestimmt, welche die Aussöhnung zwischen osteuropäischen Ländern fördert, die volle Anerkennung der Nachkriegsgrenzen Polens voraussetzt und die Unabhängigkeit der östlichen Nachbarländer (Litauen, Belarus und Ukraine) unterstützt. Die Doktrin erfreut sich großer Zustimmung in der polnischen Gesellschaft und ist in der polnischen Außenpolitik verankert. Sie besagt, dass starke, unabhängige und florierende Nachbarländer Ukraine und Belarus die besten Sicherheitsparameter sowohl für Polen als auch die gesamte Region darstellen. Polen unterstütze jahrzehntelang konsequent den Wunsch der ukrainischen und belarussischen Bevölkerungen, in ihren eigenen souveränen und unabhängigen Demokratien zu leben, sodass sie ihr Schicksal ohne Einmischung, Druck oder Gewalt von außen selbst bestimmen können.

Weitere Informationen zur Ostpolitik Polens finden Sie hier.

Das Kreml-Rezept: Spannungen erzeugen

Wie wir hier berichteten, versucht der Kreml, Spaltungen innerhalb der europäischen Gesellschaften auszunutzen, zu schaffen oder zu vergrößern, indem er emotionale oder sensible Themen mit Bezug auf Kultur oder historische Erinnerung erfindet oder manipuliert.

Die Taktik des Kremls, selektiv sensible historische Episoden zwischen den beiden Ländern zu nutzen, zeigt sich im Fall des Massakers in Wolhynien von 1943–45, das der Kreml aktiv ausnutzt, um Spannungen zwischen der Ukraine und Polen zu erzeugen.

Die gleiche Taktik wurde im April 2022 angewandt, als das von den russischen Streitkräften begangene Massaker von Butscha die internationale Aufmerksamkeit nach Moskau lenkte. Polen wurde zum Ziel einer Desinformations- und Manipulationskampagne, mit dem offensichtlichen Ziel, die Aufmerksamkeit von den russischen Gräueltaten abzulenken und in der Öffentlichkeit Ressentiments gegenüber den Ukrainern zu schüren. Unter dem Hashtag #StopUkrainizacjiPolski (#StopUkrainisationof Poland) wurden falsche Behauptungen in Umlauf gebracht, z. B. dass Menschen aus der Ukraine ihre Privilegien als Geflüchtete massiv ausnutzen würden und die polnische Gesellschaft durch „Ukrainisierung“ bedroht sei.

Diese Ablenkungskampagne wurde im Zusammenhang mit dem Vorfall in Przewodów am 15. November 2022 verstärkt, bei dem eine ukrainische Flugabwehrrakete, die eigentlich einen russischen Angriff hätte abwehren sollen, in Polen einschlug und zwei Menschen tötete. Der Vorfall wurde von Moskau genutzt, das versuchte, in Polen Wut gegen die Ukraine zu entfachen. Lesen Sie hier unsere Analyse sowie die Studie der Geremek-Stiftung zu hasserfüllten Narrativen, die Emotionen schüren sollen, oder einen Bericht von Demagog, einer polnischen Faktenchecker-Organisation, die monatlich Berichte über die Anti-Ukraine-Propaganda in polnischen sozialen Medien veröffentlicht.

Die vielen Behauptungen von Moskau

Hohe russische Funktionäre wie Putin und Außenminister Lawrow behaupten weiterhin, Polen plane, den Westen der Ukraine zu annektieren. Polen wird als die größte Sicherheitsbedrohung für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine dargestellt, während Russlands Aktionen völlig legitim und sogar „freundlich“ seien.

Dies sind die Hauptelemente der Manipulation durch Moskau:

DIE UKRAINISIERUNG BEDROHT POLEN APRIL 2022 Die „Ukrainisierung“ bedroht Polens Gesellschaft // DIE GEFLÜCHTETEN BENEHMEN SICH SCHLECHT APRIL 2022 Ukrainische Geflüchtete in Polen missbrauchen ihre Rechte. // IMPERIALISTISCHES POLEN VOR FEBRUAR 2022 Historisch gesehen war Polen schon immer imperialistisch und expansionistisch und möchte ein „Großpolen“ oder eine „polnische Welt“ erschaffen. // RUSSLAND, DER BESCHÜTZER DEZEMBER 2022 Russland schützt die territoriale Integrität der Ukraine (und von Belarus) mit seinem derzeitigen Kurs gegen die polnische Expansion. // POLEN IST EINE MARIONETTE DER USA 2019 BIS HEUTE Polen handelt auf Anweisung der USA. // DAS IMPERIALISTISCHE POLEN WILL DIE UKRAINE FEBRUAR 2022 BIS HEUTE Polen ist imperialistischer denn je und möchte den Westen der Ukraine und von Belarus annektieren.

„Wie kann Warschau es wagen, Stalin herauszufordern?“

Das offizielle russische Narrativ wurde von Putin im Dezember 2022 zusammengefasst. Seinen Worten zufolge träumen „nationalistische“ Elemente in Polen davon, sich die westlichen Gebiete zurückzuholen, welche die Ukraine dank der Entscheidungen Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten hat. Russland wird als einziger echter Garant für die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer derzeitigen Grenzen dargestellt. Putins Versuch, einen Keil zwischen Kiew und Warschau zu treiben, ist offensichtlich.

Das Erbe des Zweiten Weltkriegs und das danach geschaffene Gleichgewicht zu verteidigen (sich tatsächlich jedoch anzueignen), ist ein Lieblingsthema des Kremls. Es verstärkt ein Bild des heutigen Russlands als einziger Erbe des Großmachtstatus der UdSSR. Es bietet auch die Gelegenheit, andere zu beschuldigen, dieses Gleichgewicht stören und dadurch Chaos und Unsicherheit schaffen zu wollen. Es beansprucht auch für sich, Hauptopfer des Kriegs zu sein, und spielt die Tatsache herunter, dass Länder wie Polen oder die Ukraine vergleichsweise schwerer getroffen worden waren, da ihre Territorien vollständig besetzt waren und Millionen Menschen getötet wurden.

Putins Kommentar zum Zusammenbruch der Sowjetunion als „schlimmste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geht in diese Richtung, ebenso wie die Wiederauferstehung Stalins als Held im heutigen Russland.

„Polen ist eine imperialistische Macht – wir nicht“

Polen wird immer wieder Ziel kremlfreundlicher Desinformation, wie unsere Datenbank veranschaulicht. Desinformationsbehauptungen über seine angeblich „aggressive“ oder „imperialistische“ Politik gegenüber der Ukraine stehen im Vordergrund. Angeblich richtet sich diese Politik auch gegen Belarus, wie in diesem Beispiel gezeigt wird.

Anstatt Beweise für Polens angeblichen Imperialismus vorzulegen, schreiben kremlnahe Medien Polen einfach dieselben Pläne und Aktionen zu, die Moskau gegen seine Nachbarländer einsetzt. So treibt Polen laut kremlnaher Propaganda ein aggressives geopolitisches Konzept einer „polnischen Welt“ voran; verfolgt seinen eigenen „Drang nach Osten“; versucht, Russland mit einem „Cordon sanitaire“ (Sperrgürtel) einzukreisen; verfälscht die Geschichte von Belarus und der Ukraine, um seine Ansprüche auf diese Länder zu rechtfertigen; und steht kurz vor der direkten Annexion des Westens der Ukraine und von Belarus. All diese herbei fantasierten Behauptungen spiegeln das aktuelle Vorgehen Russlands gegen Belarus und die Ukraine unmittelbar wider.

In den Jahren 2020–21 bereitete der staatlich kontrollierte Sender Sputnik Polen den Boden für die aktuelle antipolnische „imperialistische“ Hysterie vor, indem er verschiedene „expansionistische“ Narrative über Polen verbreitete:

„Polen ist ein expansionistischer und imperialistischer Staat“

Laut Sputnik sind die polnischen Behörden von der Idee besessen, ein „modernes polnisches Großreich“ wieder aufzubauen, mit Belarus und der Ukraine als Vasallen, um sich für die Niederlagen in vergangenen Jahrhunderten zu rächen. Die polnische „Giedroyc-Doktrin“ wird fälschlicherweise als eine Version des polnischen Imperialismus dargestellt, die darauf abzielt, Belarus dem Einflussbereich Russlands zu entreißen. Dem Kreml zufolge sieht Polen die Welt mit den Augen von Józef Piłsudski, selbst während der Covid-Pandemie und einer möglichen „Apokalypse“, und versucht, Russland Belarus und die Ukraine wegzunehmen.

„Polen schafft russlandfeindlichen ‚Cordon sanitaire‘“

Dieser Linie folgend versucht Warschau beständig, eine russlandfeindliche „Pufferzone“ oder einen „Cordon sanitaire“ (Sperrgürtel) zu errichten. Projekte wie die Östliche Partnerschaft der EU und die Drei-Meere-Initiative Polens werden als russlandfeindlich angesehen und fördern angeblich Polens „expansionistische“ Interessen. So sei die Östliche Partnerschaft beispielsweise ein Spiegelbild des polnischen geopolitischen Konzepts „Cordon sanitaire“ – die Östliche Partnerschaft sei ein Instrument Polens zur Rückeroberung der ehemaligen Gebiete der Ersten Rzeczpospolita mit Hilfe von Brüssel. Polen habe außerdem eine leidvolle Geschichte und „schmerzhafte Ambitionen“, weshalb die polnischen Eliten ihre expansionistischen Pläne mithilfe der Drei-Meere-Initiative vorantreiben. Hier finden Sie die wahren Fakten zur Drei-Meere-Initiative, welche die obigen Behauptungen widerlegen.

„Polen verfolgt die Projekte ‚polnische Welt‘ und ‚Großpolen‘“

Der russische Staatssender Sputnik erfand auch das Konzept einer „polnischen Welt“, was eine direkte Anspielung auf das ideologische Konzept der „russischen Welt“ (Русский мир) ist. Diese eigentlich russische staatliche Institution, die für den „Schutz der im Ausland lebenden Landsleute“ tätig ist, wird auch vom Kreml zur Rechtfertigung des russischen Expansionismus genutzt. Dieser Behauptung zufolge hat Polen eine „geopolitische Strategie“ entwickelt, um die Ukraine in sein Projekt „Großpolen“ einzubinden – eine Strategie, die Teil der ungeschriebenen „polnischen Welt“ ist. Polen setzt seine Strategie der „polnischen Welt“ angeblich durch die Verteilung sogenannter „Polenkarten“ (Karta Polaka) an im Nachbarland lebende Menschen und durch Arbeitsmigration von der Ukraine nach Polen um. Sputnik bezeichnete die Polenkarten als „hybrides Kriegsinstrument“ und behauptet, es diene zur Destabilisierung von Belarus.

Diese Denkweise spiegelt klar die gegenwärtige Politik Russlands wider, die während der letzten Jahre darin besteht, großzügig russische Pässe insbesondere an ukrainische und georgische Bürgerinnen und Bürger in deren Ländern zu verteilen. Die kaum verschleierte Absicht dahinter ist, diese Staaten zu untergraben, indem man behauptet, es sei „Russlands Recht, Landsleute zu schützen“.

Die Fakten: Tatsächlich ist die Polenkarte primär ein kulturelles Instrument. Inhaber der Polenkarte haben kein Wahlrecht (da diese Personen keine polnischen Staatsbürger sind), sie haben jedoch das Recht auf ein gebührenfreies Studium an öffentlichen polnischen Universitäten und auf eine Krankenversicherung. Auf der Grundlage der Polenkarte kann sich dessen Inhaber auch um eine Daueraufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis bewerben. Weitere Informationen zur Polenkarte finden Sie auf der offiziellen Website.

Geschichtsrevisionistische Behauptungen

In den letzten Jahren beschuldigten kremlnahe Medien Polen immer wieder historischer Verbrechen und der Verfälschung der „wahren Geschichte“ von Belarus und der Ukraine. Die meisten dieser Anschuldigungen beruhen auf der Behauptung, dass Belarus und die Ukraine „keine Geschichte hatten, bevor sie in das russische Reich eingegliedert wurden“. Russland ignoriert beharrlich die Tatsache, dass diesen Gebieten die Herrschaft Moskaus erst Ende des 18. Jahrhunderts aufgebürdet wurde und dass sie vorher keine Verbindung zum Moskauer Staat hatten. In Bezug auf die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts stellte Sputnik die folgenden Behauptungen auf: Im Jahr 1921 wurde das Gebiet der Westukraine und von WestbelarusRussland „entrissen“ und Warschau übergeben. Diese Gebiete wurden hauptsächlich von einer „russischsprachigen“ Bevölkerung bewohnt. Im Jahr 1939 erlangte die UdSSR diese Gebiete zurück, woraufhin Polen einen „wahren Völkermord“ beging.

Auf diese Weise fördern kremlnahe Medien ihr historisches Mantra, die Ukraine und Belarus hätten schon immer zum russischen Staat gehört und seien daher untrennbar mit Moskau verbunden.

„Polen plant, das Gebiet der Westukraine zu annektieren“

Seit der russischen Invasion in der Ukraine haben kremlnahe Medien und hohe russische Funktionäre ihre Bemühungen verstärkt, alle möglichen Desinformationsbehauptungen in Zusammenhang mit Polens angeblichen „imperialistischen und expansionistischen“ Plänen hinsichtlich der Ukraine zu verbreiten. Einer der verbreitetesten Behauptung zufolge plane Polen, die Westukraine zu annektieren, obwohl dies verschiedene Formen annehmen könnte (Polen plane, die verlorenen historischen Gebiete zurückzuerlangen und seinen Status einer „Großmacht“ wiederherzustellen; Polen hätte zu Beginn des Konflikts erwogen, die Ukraine aufzuteilen; Polen wolle sich die Westukraine mithilfe der NATO-Mission einverleiben usw.).


Quelle: Bildschirmfoto aus der Berichterstattung des russischen Hauptstaatsfernsehens Rossija 1

Aufteilung der Ukraine in vier bis fünf Teile

Auf EUvsDisinfo berichteten wir über mehrere Dutzend ähnlicher Fälle von Desinformation, die Polen beschuldigten, expansionistische Pläne bezüglich der Ukraine zu haben. Diese Behauptungen spiegeln den ultimativen geopolitischen Wunsch des Kremls wider: Die Ukraine soll zwischen Russland, Polen, Ungarn und Rumänien aufgeteilt werden, während die „Überreste der Ukraine“ um Kiew herum ein verstümmelter, von Land umschlossener Marionettenstaat unter russischer Kontrolle werden soll. Kremlnahe Medien veröffentlichen regelmäßig Landkarten mit dieser „Aufteilung“. Dem Kreml gelang es jedoch nicht, „Partner“ für ein solches Verbrechen zu finden, weshalb Moskau entschied, es alleine weiterzuverfolgen.


Quelle: OKO.press

„Polen ist schuld am Krieg“ – Umschreiben der Geschichte des Zweiten Weltkriegs

In den letzten Jahren haben wichtige russische Staatskanäle den vielleicht stärksten Mobilisator in Putins heutigem Russland gestartet: die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die manipulative Verwendung emotionaler Kapitel des Krieges, einschließlich unverblümter Lügen. Die Wiederbelebung des Ansehens von Josef Stalin und die Beschönigung der unter seiner Herrschaft begangenen Verbrechen nahmen ab 2009 zu, und 2012, als Putin nach seiner Zeit als Ministerpräsident wieder Staatspräsident wurde, wurde Stalin in politischen Reden allgemein positiv dargestellt.

Stalin und sein Umgang mit Polen ist ein besonders heikles Thema. Desto offizieller Russland den Ruhm Stalins und der Roten Armee anführt, desto provokanter wird dies in Polen empfunden.

Im Jahr 2005 begann Putin, den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt neu zu bewerten und bald auch zu loben. Mit der Behauptung, dieser sei für die Verteidigung der UdSSR notwendig gewesen, beschönigte Putin die Tatsache, dass er Polen zwischen Hitler und Stalin aufteilte und Angriffe auf Polen zunächst durch die Nazi-Truppen aus dem Westen und dann durch die Rote Armee aus dem Osten vorsah. Dies wurde aus offensichtlichen Gründen von Polen schlecht aufgenommen. Putins Versuch im Jahr 2019, Polen für den Start des Zweiten Weltkriegs verantwortlich zu machen, ist eine weitere wichtige Entwicklung und markiert einen neuen Tiefpunkt in den Anschuldigungen aus Moskau.

Den Angriff der Roten Armee auf Polen als „Beginn der Befreiung“ zu bezeichnen, wie es seit 2021 in kremlnahen Medien üblich ist, ist wie Salz in eine offene Wunde zu streuen. Stalins Entscheidung, der polnischen Heimatarmee keine ausreichende Hilfe zukommen zu lassen und die Rote Armee während des Warschauer Aufstands 1944 zu stoppen, was es Hitlers Streitkräften ermöglichte, den Aufstand niederzuschlagen, wird als ein weiterer Verrat an Polen und dem polnischen Volk angesehen.

Zu suggerieren, dass Polen die Nazis zur Errichtung von Konzentrationslagern inspiriert habe, wie kremlnahe Kanäle 2020 behaupteten, stellt eine weitere Beleidigung dar.

Von der Anerkennung als Verbrechen bis zur glatten Leugnung: das Massaker von Katyn

Das Massaker von Katyn an 22 000 polnischen Offizieren, Intellektuellen und Bürgern im März 1940 durch das sowjetische NKWD ist ein wichtiger Meilenstein des Zweiten Weltkriegs, es ist aber auch zu einem besonderen Beispiel dafür geworden, wie die moderne russische Geschichte wie ein Pendel hin und her schwingt. Die Zahl der polnischen Opfer ist erschreckend hoch und das Verbrechen von Katyn wurde erst im Jahr 1990 vom sowjetischen Regierungschef Michail Gorbatschow anerkannt. Russische Menschenrechtsaktivisten halfen bei der Dokumentation der Identität der Opfer und vervollständigten die Liste polnischer Bürgerinnen und Bürger, die von der UdSSR unterdrückt wurden.

1992 übergab der russische Präsident Boris Jelzin dem damaligen polnischen Präsidenten Lech Walesa offizielle Dokumente, welche die Verantwortung der Sowjetunion für das Verbrechen von Katyn bestätigten. Als Putin an die Macht kam, kehrten die Dinge jedoch zu einem Modus Operandi aus der Zeit vor Jelzin zurück. Im Jahr 2010, nach einer Zeremonie zum Gedenken an die Massaker, bei der Putin tatsächlich die Verantwortung von Stalin und dem Sowjetsystem anerkannte, behauptete er, dass Stalin seine Gründe gehabt hätte, vom NKWD so viele Menschen töten zu lassen. Seit 2016 wird in staats- und kremlnahen Kanälen nun glatt geleugnet, dass die Sowjets verantwortlich waren, ganz nach dem Motto „das müssen die Nazis gewesen sein, nicht das NKWD“.

Eine weitere derzeitige Behauptung: Gorbatschow und Jelzin waren CIA-Agenten, so andere kremlnahe Kanäle.

… Und nun Belarus: „Polnische Imperialismuspläne gegenüber Belarus“

Belarus ist angeblich ein weiteres wichtiges Ziel des „imperialistischen“ Polens. Im November 2022 bezog sich die belarussische Ausgabe von Sputnik auf ein hypothetisches Szenario, in dem Polen ukrainische Gebiete übernahm. Das Ergebnis wäre, dass „die Grenzen von Belarus zu Polen und der NATO länger wären“, was die polnischen Nationalisten dazu antreiben werde, weitere Schritte zu unternehmen und den Westen von Belarus zu bedrohen. In einem weiteren Artikel wird behauptet, dass Polen in Betracht ziehe, gemeinsam mit Litauen militärisch in Belarus zu intervenieren.

Die Behauptungen, dass Polen angeblich plane, Gebiete im Westen von Belarus zu übernehmen, werden regelmäßig vom belarussischen Machthaber Lukaschenko geäußert. Während seines Treffens mit Putin im Mai 2022 sagte er: „Wir machen uns Sorgen, dass Polen und die NATO bereit sind, vorzurücken und die Westukraine zu übernehmen, wie es bis 1939 der Fall war (…) Diese Strategie verfolgen sie auch in Bezug auf den westlichen Teil von Belarus.“

Der belarussische Machthaber behauptet gelegentlich, dass Polens Ansprüche noch viel weiter gingen: „Sie brauchen ganz Belarus, nicht nur die ‚östlichen Grenzgebiete‘“, sagte er im Januar 2022 bei einer Staatsansprache. Ein aktuelles Beispiel für das Narrativ des „aggressiven Polens“ von Lukaschenko findet sich in seiner Rede vom 16. Februar 2023 vor einer Gruppe von Journalisten, in der er den Ausdruck „Invasion“ kritisierte und darauf beharrte, dass Russlands Angriff auf die Ukraine Moskaus Versuch wäre, sich selbst und die Ukraine zu schützen. „Ich meine Ihre Pläne, mithilfe von Polen die Westukraine zu übernehmen“, sagte er. Daher wird der Einmarsch Russlands in die Ukraine mit dem Desinformationsnarrativ gerechtfertigt, dass Russland die Ukraine vor Polens Aggression schützen wolle.

Dies alles führt zu der Schlussfolgerung: „Die USA ziehen die Strippen“

Neben den Behauptungen gegen Polen lautet die Standardaussage des Kremls: Die USA ziehen im Hintergrund alle Fäden und setzen andere Staaten als Washingtons Vasallen ein. Die Grundlage hierfür ist ein weiteres häufiges Narrativ über „verlorene Souveränität“, und dieses klassische Beispiel betrifft Polen. Die gesamte EU befinde sich unter amerikanischer Kontrolle und deshalb biete nur Russland einen Ort für Menschen, die in Freiheit leben wollen.

Die Natur von Desinformation – ein steter Tropfen höhlt den Stein während des Konflikts

Im Januar 2021 analysierten wir in unserem Artikel „Let‘s hate Poland“ anhand von Beispielen, die weiter in die russische Geschichte zurückreichen, die ständige Beschuldigung Polens.

Das ständige Wiederholen von Desinformation ist wie ein täglicher Tropfen Gift, der die Gedankenwelt vieler Zielgruppen formt. Es trägt allmählich zu einer grundlegenden Wahrnehmung eines „aggressiven Westens“ bei oder sät den Samen für eine zumindest skeptische Haltung gegenüber der westlichen Politik, in diesem Fall gegenüber der polnischen Regierung.

Dieser Nährboden wurde seit der groß angelegten Invasion 2022 weiter ausgenutzt. Die altbewährten Botschaften wurden durch neue ergänzt, dem Westen wird die Schuld am Krieg gegeben und es wird über „polnische Aggression“ spekuliert. An den bisherigen Floskeln wurde seit Februar 2022 gefeilt. (Über einen Paralleleffekt der Nutzung alter Floskeln wird hier berichtet.)

Ein Blick auf den Geschichtsrevisionismus

Russlands Krieg gegen die Ukraine verstärkt die Emotionen und schafft Gräben, in die Desinformation einen Keil treibt, alles mit dem Ziel, die Gesellschaften zu spalten. Die Manipulation und der Geschichtsrevisionismus des Kremls, die vor allem auf die polnische Gesellschaft abzielen, haben möglicherweise deshalb zugenommen, weil Polen der Ukraine stabile Unterstützung angeboten hat und deren Bevölkerung in Polen Zuflucht sucht. Das Ziel dieses Geschichtsrevisionismus ist daher, die Unterstützung und die Entschlossenheit westlicher Gesellschaften, sich Russland entgegenzustellen und die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen, zu untergraben.

In der benachbarten Ukraine unterstützt der russische Geschichtsrevisionismus Aufrufe zum Völkermord oder zur Vernichtung und wird zum Wegbegleiter. Dies fördert die Gräueltaten, die durch russische Soldaten auf dem Schlachtfeld begangen werden, oder führt zur gesellschaftlichen Akzeptanz willkürlicher Bombardierungen und Raketenangriffe auf Zivilisten durch Russland.