„Mitten ins Ziel” – aber welches Ziel?

Die Ukraine hat den Winter überstanden, doch die russischen Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung und kritische Infrastrukturen gehen weiter. Mittlerweile ist es für jeden offensichtlich, dass die Kreml-Behauptung, die russischen Angriffe träfen nur militärische Ziele, nicht wahr ist. Hier eine Vorschau auf die Moskauer Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai.
Normalerweise steht der Monat Mai für Frühling, Freude und den nahenden Sommer. In der russischen Informationssphäre steht dieser Mai für das zweite Jahr des groß angelegten Krieges gegen die Ukraine. Vor einem Jahr dämmerte es Moskau, dass die Eroberung der Ukraine nicht so einfach sein würde wie zunächst angenommen. Bereits im April hatten die russischen Truppen die Schlacht um Kiew verloren. Das erste Ramstein-Treffen am 26. April unter der Schirmherrschaft der USA leitete dann eine systematischere Koordinierung der internationalen Sanktionen und Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine ein.
Immer häufiger zogen die russischen Streitkräfte Abstandswaffen wie Artillerie, Raketen oder Flugzeuge vor, auch wenn staatliche und kremlnahe Medien die Tapferkeit einer Infanterie priesen, die sich der Gefahr stelle und siegreich vorrücke. Wenn die endlosen täglichen Verlautbarungen des russischen Verteidigungsministeriums über die russische Erfolge und die Verluste des „ukrainisch-nazistischen“ Feindes wahr gewesen wären, hätte die russische Armee bald an der ukrainische Westgrenze zu Polen gestanden. In den darauffolgenden Monaten wurde – vielleicht als Ausgleich für das Fehlen echter territorialer Gewinne – der „Jubel über die Bombardements“ zu einem Kennzeichen des öffentlichen Diskurses in Russland. Seit dem Frühjahr hatten bereits wichtige staatliche Kanäle zur Auslöschung alles Ukrainischen, also zum Völkermord, aufgerufen.
Ungeachtet der russischen Vernichtungsversuche feierte die Ukraine vor Kurzem ihre Widerstandskraft und den Zusammenhalt ihrer Gesellschaft während des russischen Terrorwinters.
Patriotische Grüße zum 1. Mai!
Sämtliche Lebensbereiche sind in Russland vom Krieg betroffen, trotz aller Versuche der staatlich kontrollierten Medien, zum 1. Mai Optimismus zu verbreiten und die Realität schönzureden. Sie beschwören den „Patriotismus“, Synonym für die Militarisierung des öffentlichen Lebens und die Verehrung eines starken Führers. In ganz Russland waren auf den Versammlungen und öffentlichen Veranstaltungen zum 1. Mai nicht nur Luftballons und Blumen, sondern auch eine stattliche Anzahl an Bannern zu sehen, die sich eigentlich auf den 9. Mai, dem Tag des Sieges, beziehen: die Siegesflagge der Roten Armee und die schwarz-gelben Sankt-Georgs-Bänder. Mobilmachung für den 1. Mai!
Danke für die Bombardements!
Getreu der Tradition, die Ukraine zu besonderen Anlässen zu bombardieren, startete Russland am 1. Mai sowie am 27. und 28. April einen großflächigen Raketenangriff in der gesamten Ukraine, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Besonders betroffen waren die Regionen um Mykolajiw, Uman, Dnipro und Kiew, und hierbei vor allem zivile Ziele. Der letzte landesweite Angriff am 9. März, der wohl anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März (der sowohl in der Ukraine als auch in Russland weithin gefeiert wird) stattfand, lag bereits einige Zeit zurück. Siehe auch unseren aktuellen Bericht über die Darstellung der Raketenangriffe auf russischer Seite.
In diesem Zusammenhang sei auch auf die provokative, manipulative TV-Landkarte der Ukraine hingewiesen, auf der sich die Russische Föderation nun bis zur Schwarzmeerküste und westlich des Dnepr erstreckt.
Wie üblich verkündete das russische Verteidigungsministerium, die jüngsten Raketenangriffe hätten „mitten ins Ziel getroffen“. Staatliche Stellen gaben außerdem triumphierend bekannt, „nur rein militärische Ziele” seien beschossen worden. Handykameras lieferten jedoch sofort Bilder aus den tatsächlich betroffenen Gebieten. Es wird immer schwieriger, die Weltöffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Hochhäuser, Kinderspielplätze und normale Rentnerwohnungen „wichtige militärische Ziele“ seien. Laut örtlichen Angaben aus dem Bezirk Pawlohrad wurden 19 Wohnhochhäuser, 25 Häuser und ein Industriegebäude getroffen. In Umam wurden am 28. April 23 Zivilisten getötet, als eine Rakete in ein Hochhaus einschlug. Die Zahl der Todesopfer durch die Angriffe steigt weiter an.
Nur jemand mit einer gestörten Wahrnehmung, der die grundlegenden Regeln des Krieges missachtet, würde alle ukrainischen Zivilisten und ihre Wohnhäuser als Teil der ukrainischen Verteidigungskräfte und als „legitime“ Ziele betrachten. Während sich die russische Führung für ihre „modernen Präzisionswaffen“ brüstet, ist die Ukraine in Wahrheit zu einem Ziel wahlloser Angriffe Moskaus geworden.
Wird der Beschuss ziviler Ziele von der Öffentlichkeit unterstützt?
Schrecklich, aber wahr: Die Angriffe auf Zivilisten sind kein Zufall, sondern Absicht. Denn inzwischen verfügen sowohl russische Soldaten als auch Entscheidungsträger und die sie unterstützenden Kräfte entlang der gesamten Befehlskette über alle notwendigen Informationen, um den Beschuss von Zivilisten und ziviler Infrastrukturen vermeiden zu können. Trotz Zensur und Beschränkungen sind Informationen über Telegram, YouTube, RuTube, VKontakte, TikTok usw. zugänglich. Nach mehr als 14 Monaten uneingeschränkter Kriegsführung mit Massen an Bildern und Berichten liegt es nicht an mangelnden Informationen, wenn russische Militärführer und einzelne Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten angreifen.
Laut einer aktuellen Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts Gallup haben sich die Zustimmungswerte hinsichtlich der russischen Politik weltweit erheblich verschlechtert. Nicht jeder glaubt die verbreiteten Lügen über „legitime militärische Ziele“. Später werden wir uns genauer ansehen, wie internationale Desinformationskampagnen die Wahrnehmung dieses Konflikts in anderen Ländern beeinflussen. In Russland scheint die Kreml-Version immer noch beträchtliche Zugkraft zu haben, zumindest wenn man den jüngsten Studien des Lewada-Zentrums glaubt, einem angesehenen, unabhängigen russischen Institut für soziologische Meinungsumfragen. Nach Angaben des Lewada-Zentrums unterstützen mehr als 70 % der Befragten den Krieg zum Teil oder ganz – eine Zahl, die seit Februar 2022 konstant geblieben ist.
Der Westen liefert Waffen an die Ukraine, also müssen wir für Frieden sorgen
Auch auf die Gefahr hin, uns zu wiederholen: Der Kreml behauptet nach wie vor, Kiew habe den Krieg begonnen und Russland müsse deshalb den Frieden wiederherstellen. Wie üblich wird behauptet, der Westen stecke hinter der Politik Kiews. Die Bilder aus der Ukraine zeigen, was mit „Frieden“ oder „Entnazifizierung“ gemeint ist: Zerstörung und Mord auf ganzer Linie.
Einstimmung auf den 9. Mai: Was uns bevorsteht
Die Rhetorik des Kremls in den staatlichen Fernsehsendern wird immer eindringlicher, wie in diesem Beispiel: Der Westen führt Krieg gegen Russland und die Ukraine ist nur sein Handlanger..
Schon im letzten Jahr lieferten wir Ihnen eine Vorschau auf die Ereignisse des 9. Mai und es stellte sich heraus, dass sie genau dem Drehbuch des Kremls entsprach. Machen Sie sich in diesem Jahr auf einen giftigen Cocktail aus Putins Geschichtslektionen mit verdrehten, auf den Kopf gestellten Fakten und verbalen Angriffen gegen den Westen gefasst. Begleitet werden sie voraussichtlich von einem nahezu apokalyptischen nuklearen Säbelrasseln.
Zwar haben sechs russische Regionen in ukrainischer Nachbarschaft ihre Paraden abgesagt, doch über die Straßen rund um den Roten Platz in Moskau werden überdimensionale Fahrzeuge rollen, die mit ballistischen und anderen Raketen beladen sind. Den Moskauer Himmel werden Militärjets bevölkern. Mit übertriebenem Pathos werden Festredner die Unbesiegbarkeit und Unsterblichkeit des historischen Russlands beschwören und eine direkte Linie von Stalingrad über Sewastopol bis zu den heutigen Schützengräben ziehen. Die staatlichen Informationskanäle werden den Krieg in den Städten und die kolossalen Zerstörungen durch die Artillerie in Bachmut womöglich mit den Verwüstungen im Berlin des Zweiten Weltkriegs vergleichen. Schon jetzt sind Gebäude in Moskau mit einem riesigen „Z“ behängt.
Nur wenige hochrangige internationale Gäste werden anwesend sein. Diese Tatsache bereitet dem Kreml mehr Sorgen, als er öffentlich zugeben möchte, da sie das ganze Ausmaß der Isolation Russlands verdeutlicht. Doch für die Öffentlichkeit wird die Botschaft wohl lauten: „Das ist unsere Feier, eine russische Feier! Wen kümmern schon die Ausländer?“
Doch nicht alles ist ruhmreich: Der grausame Krieg in der Ukraine hat keinen Sieg gebracht und die hohen Opferzahlen sind ein ernstes Problem. Da hilft nur noch der alte Trick: die Verteidigung des Vaterlandes! Der Krieg ist existenziell, denn es geht um das Überleben Russlands! Leute, die nicht zustimmen können oder wollen, werden beseitigt oder zu langen Haftstrafen verurteilt wie Wladimir Kara-Mursa. Er wurde kürzlich für seine Kritik am Krieg zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt – mehr als bei ähnlichen Haftstrafen zur Sowjetzeit.
Diese Woche auch auf dem Radar von EUvsDisinfo:
- Die USA fälschen Kreml-Pläne, um die baltischen Staaten zu beeinflussen und ihre eigenen Probleme zu verschleiern. Bei dieser Meldung handelt es sich um eine klassische Kreml-Taktik, mit der die Schuld auf andere abgewälzt wird, wenn unabhängige investigative Journalisten verschiedener seriöser Medien neue Finten aus der reichhaltigen russischen Trickkiste aufdecken. Mehrere EU-Länder haben die russischen Spionagenetze durch die Ausweisung von Agenten geschwächt, die als Diplomaten getarnt waren. Aus diesem Grund versucht Moskau, andere Wege der Einflussnahme zu finden.
- Die Welt schlägt vor, Putin zu töten. Diese manipulative Falschinformation ist aus mehreren Gründen aufschlussreich: Erstens wurde sie auf einem der führenden russischen Staatssender, Rossija 1, ausgestrahlt und spiegelt daher die „Stimme des Meisters“ wider. Zweitens wurde der Beitrag eines seriösen Presseorgans, in diesem Fall der deutschen Tageszeitung „Die Welt“, deutlich verfälscht wiedergegeben. Damit sollen unabhängige Medien, die das Fundament des freien Informations- und Meinungsaustauschs in unseren Demokratien bilden, diskreditiert werden. In dem „Welt“-Artikel ist keine Rede von der Ermordung Putins. Drittens wird versucht, den Schwerpunkt der Diskussion zu verlagern, indem dem Gegner finstere Motive unterstellt werden. Viertens bestätigt sie ein russisches Tabu: Über das Schicksal des großen Führers zu diskutieren, ist eine Todsünde. Er verkörpert das moderne Russland, denn, wie Wjatscheslaw Wolodin, der aktuelle Sprecher der Duma (russisches Parlament), einmal sagte: „Es gibt heute kein Russland ohne Putin“.
- Das Neonazi-Regime in Kiew muss beseitigt werden. Haben Sie diese Forderung schon einmal gehört? Ja, ungefähr eine Million Mal. Doch ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass es die aktuelle Denkweise des kremlnahen Desinformationssystems und damit auch die Haltung Moskaus widerspiegelt. Nicht vor einem Jahr, sondern heute, während Sie diesen Artikel lesen. Diese Haltung ist immun gegen mehr als 14 Monate harter Kriegsführung, gegen 100 000 Tote und gegen weitere Verluste auf russischer Seite. Sie ist immun gegen Forderungen nach einer Einigung mit Kiew, einer Verständigung oder einem Friedensabkommen. Die manipulative Beharrlichkeit, mit der trotz entlarvender Gegenbeweise behauptet wird, die Feinde in Kiew seien einfach nur Nazis (siehe unsere mehr als 1 000 Beiträge), zeigt, dass es kein Zurück mehr gibt.