Read this article in EN RU IT ES FR DE PL UA

Sanktionen haben keine Wirkung”: Russische Desinformationsnarrative über Sanktionen in der EU, in der Ukraine und in Russland selbst

März 06, 2023
by Tommaso Canetta (EDMO), Valeriia Danko (StopFake), Yuliia Dukach (Texty.org.ua)
Dieser Beitrag gibt nicht den offiziellen Standpunkt des EAD wieder. Der EAD kann nicht für die Verwendung der in dieser Veröffentlichung enthaltenen Informationen verantwortlich gemacht werden.

Die EU hat als Reaktion auf die unprovozierte und rechtswidrige Invasion in die Ukraine mehrere Runden von Sanktionen gegen Russland verhängt, um die Fähigkeit Russlands zur Fortsetzung der Aggression wirksam zu unterbinden.

Bislang haben die Sanktionen bereits Russlands Fähigkeit beeinträchtigt, Waffen zu produzieren, die im Westen hergestellte Teile benötigen. Der russische Staatshaushalt hat aufgrund der restriktiven Maßnahmen im Handel, die sich auf die Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor, den beiden wichtigsten Säulen der russischen Wirtschaft, auswirken, Trillionen von Rubeln verloren. Die Aufhebung der Sanktionen würde dem Kreml einen enormen Vorteil verschaffen. Deshalb produziert sein Desinformationsnetzwerk Lügen und Verschwörungen mit dem Ziel, Zwietracht zu säen und den Eindruck, dass die Sanktionen unwirksam seien, zu erwecken.

Drei Organisationen haben kürzlich die Desinformation über Sanktionen genauer unter die Lupe genommen. Die Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien und ihr Netzwerk zur Überprüfung von Fakten analysierten sanktionsbezogene Desinformationen in der EU, während zwei ukrainische Organisationen (StopFake und Texty) das russische und das ukrainische Medienökosystem untersuchten.

Zu unseren wichtigsten Ergebnissen gehört, dass Kreml-freundliche Desinformationen über Sanktionen auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnitten sind. In der EU konzentriert sich die Desinformation über die Sanktionen auf die Spaltung der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Innerhalb Russlands tendiert die Desinformation zu der Behauptung, dass die Sanktionen Russland gestärkt hätten. Und in der Ukraine wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Sanktionen nicht wirken, weil der Westen mehr mit seinen eigenen wirtschaftlichen Problemen beschäftigt ist als mit der Ukraine.

Desinformationsnarrative über Sanktionen in der EU

Um dieses Thema zu erforschen, haben wir EDMO Berichte, Untersuchungen und Erkenntnisse verwendet und Artikel untersucht, die von EU-Faktenprüfungsorganisationen und Mitgliedern des EDMO Datenbanks über die Ukraine veröffentlicht und gesammelt wurden.

Zu unseren wichtigsten Ergebnissen gehört, dass Kreml-freundliche Desinformationen über Sanktionen auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnitten sind. In der EU konzentriert sich die Desinformation über die Sanktionen auf die Spaltung der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Innerhalb Russlands tendiert die Desinformation zu der Behauptung, dass die Sanktionen Russland gestärkt hätten. Und in der Ukraine wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Sanktionen nicht wirken, weil der Westen mehr mit seinen eigenen wirtschaftlichen Problemen beschäftigt ist als mit der Ukraine.

Innerhalb der EU standen die Sanktionen gegen Russland nicht im Mittelpunkt der Kreml-freundlichen Desinformation. Die Erzählungen konzentrierten sich eher auf Ereignisse auf dem Schlachtfeld, ukrainische Flüchtlinge und die Ukraine als angeblichen Nazi-Staat. In den Monaten nach der Invasion ging der Anteil der Ukraine-bezogenen Desinformationen an der Gesamtmenge deutlich zurück.


[Grafik aus dem 17. monatlichen EDMO-Bericht über die im Oktober in der EU entdeckten Desinformationen]

Zu Beginn des Herbstes 2022, behauptete eine in der EU weit verbreitete Desinformationsmeldung unter anderem, dass die EU-Regierungen Proteste gegen steigende Preise gewaltsam unterdrücken würden. Sie richtete sich gegen EU-Mitgliedsstaaten, Regierungen und Politiker und machte diese für Preiserhöhungen, drastische Strafen und angebliche Repressionen verantwortlich, wobei Sanktionen nur selten erwähnt wurden. In den letzten Monaten ist diese Darstellung verblasst.

Desinformation über die Gas-/Preiskrise nimmt im September in der EU zu und wird zu einem immer bedeutenderen Phänomen: Falsche Nachrichten, die behaupten, dass die Preiskrise auf Spekulationen in einzelnen Ländern zurückzuführen ist, dass die Stromversorgung für Häuser gekappt wird, dass europäische Staaten drastische Strafen und repressive Maßnahmen beschließen, dass Proteste bereits stattfinden, aber gewaltsam unterdrückt und verheimlicht werden, kursierten im September in der EU. Es ist wahrscheinlich, dass dieses Phänomen in den nächsten Wochen und möglicherweise Monaten, wenn die Preiskrise anhält, noch zunehmen wird.

Das allgemeine Narrativ über Sanktionen behauptete, dass sie der Wirtschaft der EU-Mitgliedstaaten schaden. Dies wurde vor allem in Osteuropa und insbesondere in den baltischen Staaten verbreitet (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3, Beispiel 4, Beispiel 5, Beispiel 6, Beispiel 7). Diese Darstellung spiegelt Putins Äußerungen wider, wonach Europa durch Sanktionen gegen Russland “wirtschaftlichen Selbstmord” begehe.

Ein Subnarrativ spielte die Auswirkungen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft herunter, obwohl sie in der EU nicht weit verbreitet war. Beispiele betrafen eher die Panikmache europäischer Politiker und Experten oder die Behauptung, der Westen solle sich fragen, ob die Sanktionen Russland oder Europa schaden.

Andere Subnarrative beinhalteten Behauptungen, dass die Sanktionen übertrieben, dumm oder diskriminierend gegenüber den Russen seien (Beispiel 1, Beispiel 2) und dass Russland die Gasexporte wegen der Sanktionen (Beispiel 1, Beispiel 2) und nicht aufgrund einer selbstständiger russischen Entscheidung eingestellt habe. Das zweite Subnarrativ ging vor allem in Deutschland viral und verbreitete besonders auf Twitter und Facebook.

Desinformationsnarrative über Sanktionen in Russland

Im Laufe der Jahre hat Russland mühsam ein ganzes Desinformations-Ökosystem innerhalb des Landes aufgebaut, um falsche Geschichten über westliche Demokratien zu verbreiten. Dieses Ökosystem kam am 24. Februar 2022 mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine in vollem Umfang in Gang. Russland stützt sich nicht nur auf die klassischen Narrative über die “Unrechtmäßigkeit” der westlichen Sanktionen, sondern hat auch eine Reihe neuer Narrative entwickelt, die darauf abzielen, die Demokratie im Allgemeinen zu diskreditieren.

Es besteht ein Unterschied zwischen Erzählungen über Sanktionen, die im europäischen Informationsraum erscheinen, und Erzählungen, die sich an ein inländisches russisches Publikum richten. In der EU zielt die Desinformation über Sanktionen darauf ab, die Gesellschaft zu spalten und die antiwestliche Stimmung zu stärken. In Russland hingegen zielen Sonderberichte über Sanktionen darauf ab, die Stimmung zu heben, die russische Gesellschaft zu einen und die Illusion von Russlands Selbstgenügsamkeit und Allmacht zu erwecken. Das russische Narrativ über die Sanktionen, die sich an ein inländisches Publikum richtet, lässt sich in drei verschiedene Blöcke unterteilen.

Russische inländische Narrative über Sanktionen
(Jeder der Narrative-blöcke enthält etwa 10-15 weitere Unterthemen)
Narrativ 1. Westliche Sanktionen sind ein buchstäblicher Angriff auf Russland. Das Hauptziel des Westens ist das Leben von Millionen von Russen zu zerstören, im antirussischen Wirtschaftskrieg zu siegen und die Welt zu dominieren.
Narrativ 2. Die Sanktionen haben sich erschöpft, der Westen kann keine neuen Beschränkungen mehr einführen.
Narrativ 3. Sanktionen schaden Russland nicht, sondern machen es stärker. Die Sanktionen des Westens haben nicht zu einer Schwächung der russischen Wirtschaft geführt, sondern sie gestärkt].

In der Regel korreliert eine Welle neuer Sanktionsnarrative mit der Verabschiedung neuer Sanktionspakete durch die EU und die USA.

Am Tag der Veröffentlichung des neunten EU-Sanktionspakets gegen Russland am 16. und 17. Dezember veröffentlichte Russlands größtes staatliches Medienunternehmen, RIA Novosti, 79 Artikel über die neuen Sanktionen. Von der Gesamtzahl entpuppten sich 30 Meldungen (fast 40 % der Artikel) als Desinformation oder als Informationsmanipulation. Zum Vergleich: Am 9. und 10. Dezember veröffentlichte RIA Novosti nur 31 Nachrichtenartikel über die Sanktionen. Davon entpuppten sich sieben Artikel als Desinformation oder Informationsmanipulation.


[Die zunehmende Verbreitung neuer Narrative über Sanktionen korreliert mit der Verabschiedung neuer Sanktionspakete. Am Tag der Verabschiedung des 9. EU-Sanktionspakets gegen Russland erwiesen sich fast 40 % der russischen Artikel über Sanktionen als Desinformation oder Manipulation.]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verbreitung von Desinformationsnarrativen im russischen Informationsraum vom jeweiligen Anlass abhängt. Das heißt, die Zahl der Fälschungen steigt enorm, wenn die EU und die USA neue Sanktionspakete vorlegen. Im Durchschnitt steigt das Ausmaß der Desinformation über Sanktionen am Tag der Veröffentlichung einer neuen Sanktionsliste um 45-55%.

Mitteilungen über Sanktionen in russischen Nachrichten

Je schmerzhafter die Sanktionen wurden, desto weniger schrieben russische Medien über sie.


[Russland beginnt allmählich, weniger über Sanktionen und wirtschaftliche Themen zu schreiben. Die Zahl der russischen gesellschaftspolitischen Nachrichten, in denen sich mindestens ein Absatz auf Sanktionen und die Reaktion der russischen Wirtschaft darauf bezog, sank von 30% auf 10%.]

Desinformationsnarrative über Sanktionen in der Ukraine

Seit Beginn der umfassenden Invasion haben die offiziellen russischen Medien und ihre Sprachrohre in der Ukraine den größten Teil ihres Einflusses auf das ukrainische Publikum verloren. Pro-russische Fernsehsender (das so genannte “Medwedtschuk-Medienreich”) wurden bereits vor Kriegsbeginn geschlossen, und pro-russische Online-Publikationen wurden entweder geschlossen, änderten ihre Position in eine nachweislich pro-ukrainische oder wurden zusammen mit den offiziellen russischen Medien blockiert. Daher ist der Hauptkanal für russische Desinformation in der Ukraine Messenger-Apps und soziale Netzwerke, vor allem Telegram. Dort kann man die meisten russischen Erzählungen über Sanktionen sehen, die für das ukrainische Publikum angepasst wurden.

Einerseits behandeln führende ukrainische Medien das Thema der Sanktionen gegen Russland so ausführlich und meist so neutral wie möglich. Sie berichten über jedes Sanktionspaket und versuchen mit Hilfe von Experten, den Wunsch der Leser zu erfahren, wie zerstörerisch es für die russische Wirtschaft sein wird, zu befriedigen.

Auf der anderen Seite bereiten ukrainische Nachrichtenaggregatoren in Telegram ihr großes Publikum auf ungeprüfte, emotionale Nachrichten vor. Und obwohl in der großen Mehrheit solcher Nachrichten nicht einmal eine Spur von russischer Desinformation zu finden ist, trägt das emotionale Format selbst zur Verbreitung von Desinformationsnarrativen bei, darunter:

1. Hätten die USA und die EU früher Sanktionen verhängt, wäre die Invasion nicht begonnen worden. Dieses Narrativ ist zu einem Mittel geworden, um die Sanktionen, die nach der Invasion verhängt wurden, zu diskreditieren und in ihrer Wirkung abzuschwächen.

2. In der Berichterstattung und in Beiträgen wurden häufig die Worte “Zusammenbruch” und “Absturz” verwendet, um die einzelnen Sanktionswellen und die Reaktion der russischen Wirtschaft darauf zu beschreiben, insbesondere in den ersten Monaten des Krieges. Diese Worte trugen zu dem falschen Eindruck bei, dass nur Sanktionen den Vormarsch der russischen Truppen aufhalten können. In Kommentaren von “Experten” wurde auch behauptet, dass Russland aufgrund der Sanktionen nur noch Ressourcen für den Krieg “bis zum nächsten Sonntag” zur Verfügung stünden.

3. Nach einigen Monaten, wenn der Zusammenbruch ausblieb, konnten russische Propagandisten dann behaupten, dass Sanktionen und westliche Hilfe nicht ausreichen, dass Sanktionen Russland nicht schaden und dass der Westen wegen eigener wirtschaftlichen Probleme nicht an Sanktionen interessiert ist.

Diese Narrative sind jedoch nicht weit verbreitet, und der vorherrschende Diskurs ist nach wie vor ein positiver, der die umfangreiche Hilfe der Partnerländer für die Ukraine hervorhebt.

Flexible Lügen

Diese vergleichende Analyse zeigt, dass die Propaganda des Kremls durchaus flexibel ist. Innerhalb eines Themas entwickeln kremlnahe Desinformationskanäle je nach Zielpublikum verschiedene, sich oft gegenseitig ausschließende Narrative. In der EU zielen die russischen Narrative beispielsweise darauf ab, einen Keil in die europäische Einigkeit über Sanktionen zu treiben. In Russland selbst wollen die Sprachrohre des Kremls die Bevölkerung des Landes davon überzeugen, dass Sanktionen nicht funktionieren und dass Russland eine starke, selbstgenügsame Wirtschaft ist. Selbst in der Ukraine, wo die offiziellen russischen Medien ihren Einfluss verloren haben, verbreiten anonyme Telegram-Kanäle manipulative Erzählungen über Sanktionen, um den Geist der Ukrainer zu brechen und ihr Vertrauen in westliche Hilfe zu untergraben.

Um den Druck auf Russland aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass es so wenig Mittel und Möglichkeiten wie möglich hat, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine anzuheizen, ist es wichtig, der Desinformation des Kremls über die Sanktionen entgegenzuwirken. Unsere Ergebnisse erinnern uns daran, dass die Lügen und Desinformationen des Kremls genauso gefährlich wie russische Raketen sind.