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Spiel mit dem nuklearen Feuer

August 18, 2022

Der unprovozierte und brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wütet nun schon seit fast sechs Monaten. Und genau wie die Invasionsmacht auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ist die fanatische kremlfreundliche Desinformation in den Kampfzonen der Informationsräume immer rücksichtsloser und hasserfüllter geworden.

Wir haben schon früher darüber geschrieben, wie an ungezügelte Hassreden grenzende Desinformation dazu benutzt wurde, um die Opfer des Kriegs in der Ukraine zu entmenschlichen, was zu sehr realen von den Angreifenden in Butscha, Mariupol und Kramatorsk begangenen Gräueltaten führte, um nur einige Orte zu nennen. Ein typisches Merkmal der Kreml-Trolle, die Desinformation verbreiten, sind Gefühllosigkeit und die Missachtung der menschlichen Auswirkungen ihrer Worte.

Jetzt haben sie offenbar ein weiteres Ziel ins Visier genommen: das Kernkraftwerk Saporischschja. Dabei lassen sie die Risiken einer Fehleinschätzung, einer Eskalation oder eines einfachen menschlichen Versagens außer Acht, die ihre Desinformation verursachen könnte.

Es handelt sich nicht um das erste Mal, dass die Manipulations- und Desinformationsmaschinerie des Kremls eine tief sitzende und sehr gerechtfertigte Angst vor einer nuklearen Katastrophe nutzt, um ihre politischen und militärischen Ziele in der Ukraine voranzutreiben. Behauptungen, dass die Ukraine sich auf Provokationen und Terroranschläge vorbereite und das Kernkraftwerk Saporischschja beschieße, um eine internationale Friedensmission auszulösen, die USA geheime Labore im KKW Saporischschja unterhalten, der Westen eine ABC-Provokation vorbereite und für die Beschießung des KKW Saporischschja durch die Ukraine verantwortlich sei, sind nur einige der jüngsten Beispiele für kremlfreundliche Desinformation. Die Taktik ist bekannt – so viele Anschuldigungen wie möglich erheben und sehen, was hängen bleibt.

Es mag wie ein unbändiger Wahnsinn erscheinen, ähnlich wie der fiktive Dr. Seltsam mit der Welt eine „nukleare Mutprobe“ zu spielen und zu sehen, wer zuerst blinzelt. Andererseits, wenn die Verantwortlichen im Kreml keine moralischen Bedenken haben, Desinformation über die Lebensmittelsicherheit als geopolitische Waffe einzusetzen, werden sie wahrscheinlich genauso skrupellos sein, wenn es darum geht, die Welt mit einer nuklearen Katastrophe zu bedrohen.

Neben der Desinformation, die russische Talkshows, Print- und Online-Medien sowie die sozialen Medien durchdringen, hat der Kreml ebenso auf höchster internationaler Ebene die Angst vor Atomwaffen geschürt. So wurden ihre Diplomaten im UN-Sicherheitsrat dafür eingesetzt, die Ukraine fälschlicherweise zu beschuldigen oder den USA anzuhängen, für die Blockade der Entsendung einer Erkundungsmission durch die Internationale Atomenergie-Organisation verantwortlich zu sein.

Kein internationaler Diskurs über Nuklearfragen wäre ohne die bekannten Desinformationsnarrative des Kremls zur Rüstungskontrolle vollkommen, in denen die NATO grundlos beschuldigt wird, gegen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) zu verstoßen. Doch selbst russische Fachleute für Rüstungskontrolle wissen sehr wohl, dass die Vereinbarungen der NATO über die nukleare Teilhabe voll und ganz mit dem Nichtverbreitungsvertrag vereinbar sind. Diese Beschwerden sind gerade deshalb so heuchlerisch, da Russlands aggressive nukleare Rhetorik seit Beginn des Krieges eskaliert ist.

Im Zweifelsfall ist das Baltikum schuld

Das Schüren von Ängsten vor Atomwaffen und das Spiel mit der globalen Sicherheit stellten nicht die einzige Beschäftigung der Verbreiter kremlfreundlicher Desinformation dar. Auch in einer ihrer bevorzugten Zielregionen, dem Baltikum, waren sie eine Woche lang auf der Jagd nach dem imaginären Gespenst des Nazismus. Der jüngste Anstoß „Russophobie“ zu beklagen kam, nachdem die Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei und Finnland dazu aufriefen, die Erteilung von Touristenvisa für Russland auszusetzen, solange dieses Land in der Ukraine Krieg führt.

In der Propaganda des Kremls wurde daraufhin versucht, sich gegenseitig zu übertreffen. Einige nutzten die Gelegenheit, um über die Spaltungen innerhalb der EU zu sinnieren, während andere Krokodilstränen über die unwiderruflich zerrütteten Beziehungen des Westens zu Russland vergossen. Das übergreifende Thema waren die manipulativen Anschuldigungen. Einige Kommentierende zogen phantasievolle, wenn auch falsche geschichtliche Parallelen mit der Politik der Nazis gegenüber den Juden in den 1930er Jahren.

Doch in den Augen der staatlich kontrollierten russischen Desinformationskanäle und ihrer Beauftragten hat das Baltikum mehr als nur seinen üblichen Unfug getrieben. Nach Angaben des Kremls würde die Entscheidung Lettlands, Russland zu einem staatlichen Sponsor des Terrorismus zu erklären, zeigen, dass die „Russophobie“ in diesem Land völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Für ein Vorbild in Sachen Völkerrecht wie Russland ist diese Bezeichnung ein Affront gegen alles, was heilig ist. Für viele Beobachtende ist es logisch, Russland zu einem terroristischen Staat zu erklären, da der Kreml Angst, Gewalt, Feindseligkeit und sogar Kriegsführung einsetzt, um aus geopolitischen Gründen globale Instabilität zu schüren.

Estland geriet ebenfalls in das Fadenkreuz der kremlfreundlichen Desinformation. Zunächst, da das Land Forderungen für ein „Visumverbot“ gegen friedliebende Russen stellte. Dann wegen Absprachen mit Finnland, die Ostsee zu einem NATO-Binnenmeer zu machen. Und das Land krönte das Ganze mit der Demontage des Monuments eines sowjetischen T-34-Panzers in Narva, welche die Menschen in Estland bis dahin stolz an fünf Jahrzehnte sowjetischer „Befreiung“ der totalitären Art erinnert hatte. Die Ideologen im Kreml konnten nicht begreifen, dass diese estnischen Maßnahmen eine gerechtfertigte Reaktion auf einen zunehmend kriegerischen Nachbarn sein könnten.

Die Kreml-Propagandisten ließen die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, auch Litauen zu beschuldigen, vielleicht weil sie die Sache nicht auf die lange Bank schieben wollten, wahrscheinlich aber auch, weil sie in ihrem eigenen imperialistischen Wahn gefangen waren. Zu den phantasievolleren Äußerungen gehörte die Beschwörung der Metapher des „Eisernen Vorhangs“, die besagt, dass Litauen alle Menschen aus Russland vollständig isolieren wolle, jedoch insbesondere Personen, die Putins totalitäres Regime ablehnen. Diese Behauptung beinhaltet, dass Litauen planen könnte, Dissidenten einzusetzen, um eine „Farbrevolution“ in Russland anzuzetteln. Sie ist ungeheuerlich, aber wir wissen bereits seit Jahren von der Besessenheit des Kremls bezüglich „Farbrevolutionen“.

Der jüngsten Welle falscher Anschuldigungen gegen die baltischen Staaten liegt das bekannte kremlfreundliche Desinformationsnarrativ der „verlorenen Souveränität“ zugrunde. Einfach ausgedrückt bedeutet das: Undurchsichtige Figuren in Washington halten wieder einmal alle Fäden in der Hand. Nicht überzeugt? Sie sollten der Propaganda des Kremls Glauben schenken.

Weitere Nachrichten mit Desinformation:

  • Trotz enormer und unwiderlegbarer Beweise dagegen verbreitet das kremlfreundliche Desinformationsökosystem weiterhin das falsche Narrativ, dass unvorstellbare Gräueltaten wie das Massaker von Butscha oder der abscheuliche Angriff auf die Entbindungsklinik in Mariupol lediglich inszenierte Provokationen des Westens waren, der die Ukraine benutzt, um durch psychologische Operationen Krieg gegen Russland zu führen.
  • Der berüchtigte kremlfreundliche Desinformationskanal RT behauptet, dass Moskau die Genfer Konventionen über die Behandlung von Kriegsgefangenen gewissenhaft einhält. Menschenrechtsbeobachter und Nachrichtenagenturen haben jedoch wiederholt die schrecklichen allgemeinen Bedingungen beschrieben, unter denen die russischen Besatzungstruppen Menschen aus der Ukraine festhalten.
  • Verschiedene kremlfreundliche Desinformationskanäle gehen weiterhin mit dem falschen Narrativ hausieren, dass die ukrainischen Streitkräfte seit Jahren Kriegsverbrechen und Völkermord im Donbas begangen haben. Dabei handelt es sich um ein wiederkehrendes Thema in der russischen Desinformation, das als Bestandteil einer laufenden Desinformationskampagne zur Rechtfertigung von Russlands militärischer Invasion in der Ukraine ordentlich Fahrt aufgenommen hat.