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Zentrale Narrative der kremlfreundlichen Desinformation Teil 3: „Verlorene Souveränität“

August 13, 2022

Ein wesentlicher Zug der kremlfreundlichen Desinformation sind Wiederholungen. Bei all den unverschämten Behauptungen klingen kremlfreundliche Kanäle häufig wie eine kaputte Schallplatte: Sie wiederholen eine Hand voll grundlegender Botschaften für das heimische und internationale Publikum. Das ist kein Versehen oder Fehler, es ist Absicht: Wiederholungen verleihen Lügen Glaubhaftigkeit. Kremlfreundliche Desinformationskanäle erreichen das, indem sie bei den gleichen wiederkehrenden Narrativen bleiben, die als Vorlage für einzelne Artikel dienen.

Ein Narrativ ist eine übergeordnete Botschaft, die über Texte, Bilder, Metaphern und andere Mittel übermittelt wird. Über Narrative können Botschaften leichter verbreitet werden, sie schaffen Spannung und sorgen für Aufmerksamkeit. EUvsDisinfo hat fünf vorherrschende Narrative zusammengetragen, die von russischen und kremlfreundlichen Desinformationskanälen eingesetzt werden. Die Anwendung dieser Narrative konnte vielfach beobachtet werden: Zum Beispiel bei Wahlmanipulationen, der Verbreitung falscher Tatsachen über die COVID-19-Pandemie oder zur Rechtfertigung des unprovozierten Kriegs in der Ukraine.

Diesen Sommer werden wir einen aktualisierten Überblick über diese Narrative veröffentlichen. Hier ist das Dritte, das Narrativ der „Verlorenen Souveränität“. Lesen Sie auch die bisher veröffentlichten Artikel: „Die Elite vs. das Volk“ und „Bedrohte Werte“.

Narrativ Nummer 3: „Verlorene Souveränität“

Russische und kremlfreundliche Desinformationsquellen behaupten gern, dass bestimmte Länder über keine echte Souveränität mehr verfügen. 2015 illustrierte ein Karikaturist diese Idee für die russische staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti: Uncle Sam dreht die Flamme am Gasherd auf und zwingt Europa, auf und ab zu springen und Sanktionen gegen Russland zu fordern.

Originale Illustration: RIA Novosti

Seitdem haben sich noch viele solcher Beispiele dieses Narrativs in kremlfreundlichen Kanälen verbreitet, zum Beispiel: Die Ukraine wird von Fremden regiert und die baltischen Staaten sind keine echten Länder. Kremlfreundliche Desinformationskanäle behaupten auch, dass Finnland und Schweden durch ihren Beitritt zur NATO bald ihre Souveränität verlieren und dass sie von außen (USA, NATO) unter Druck gesetzt werden. Es gibt noch viele weitere Beispiele: Die EU wird von Washington geführt, Japan ist ein Vasallenstaat, Deutschland ist ein besetztes Gebiet, Entscheidungen in der Ukraine fällt nicht der Präsident, sondern die USA, und so weiter.

Kremlfreundliche Kanäle haben sogar einen spezifischen Begriff für diese „nicht-souveränen“ Staaten: „Limitrophe“, oder auch Grenzgebiete, die ihren Herren Subsistenz und Unterwürfigkeit schulden. Die polnische Ausgabe des kremlfreundlichen Propagandakanals RuBaltica erklärt:

„Es gibt echte Staaten, die sämtliche staatliche Funktionen ausführen können, und dann gibt es geopolitischen Abschaum oder fiktive Länder, die formale Eigenschaften der Staatlichkeit vorweisen, aber keine echten Staaten sind. Zu diesen Ländern gehören die ehemaligen sowjetischen Grenzgebiete, die Russland vom Westen trennen. Die Pseudoeliten dieser Länder können keine ernsthafte historische Krise, wie die Flüchtlingskrise, bewältigen, den Grenzschutz gewährleisten oder die Epidemie bezwingen. Sie bitten immer wieder Westeuropa und die Vereinigten Staaten um Hilfe, weil sie alleine nicht klarkommen. Diese Länder werden von Marionetten regiert – sie können nur davon reden, „Russland aufzuhalten“ und für russlandfeindliche Resolutionen in der EU und bei den Vereinten Nationen stimmen.“

Das Narrativ der „verlorenen Souveränität“ ist letztendlich ein Narrativ der Entmachtung, das die Grundfesten der Demokratie aushöhlen soll. Warum sollte man sich um demokratische Prozesse und Wahlen scheren, wenn das Land von mächtigen Fremden regiert wird?

Als Gegensatz behaupten kremlfreundliche Kanäle, dass echte Souveränität nur unter russischer Kontrolle möglich ist.

Kein unabhängiger politischer Wille der Menschen

Eng mit dem Narrativ der „verlorenen Souveränität“ verbunden sind auch kremlfreundliche Desinformationsbotschaften über sogenannte „Farbrevolutionen“. Diese Botschaften unterstellen, dass soziale Unruhen und politische Proteste von mächtigen Fremden (dem Westen) orchestriert werden und kein aufrichtiger Ausdruck des Aktivismus oder Unmuts der Bevölkerung sind. Es gibt viele Beispiele hierfür, die bis zu den Euromaidan-Protesten 2013-2014 in der Ukraine zurückreichen, bei denen kremlfreundliche Kanäle fälschlicherweise Beamte der USA beschuldigten, die Proteste der Bevölkerung inszeniert zu haben.

Die Zurückweisung des unabhängigen politischen Willens und der Ziele anderer Menschen durch den Kreml ist arrogant und verdeckt meist ein imperialistisches Vorgehen bezüglich der betroffenen Menschen oder des entsprechenden Landes. Der Kreml scheint das Konzept des freien Willens nicht zu verstehen und greift deshalb auf Verschwörungsdenkweisen zurück – „Wer würde sich bei gesundem Menschenverstand von Russland distanzieren wollen? Das kann nur eine Manipulation der Angelsachsen sein.“ Da überrascht es nicht, dass die EU nach Meinung des Kremls auch unter angelsächsischer Kontrolle steht.

Unterminierung der Staatlichkeit der Ukraine

Das Narrativ der „verlorenen Souveränität“ soll das Vertrauen in demokratische Einrichtungen untergraben und sie letztendlich in ihren Grundfesten erschüttern. Eine besondere Bedeutung erhielt es bei den Versuchen kremlfreundlicher Kanäle, die militärische Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Ein berüchtigtes Beispiel war die Behauptung von Putin ein paar Tage vor der großangelegten Invasion, dass „Lenin die Ukraine geschaffen hat“ (diese Behauptung kursierte bereits im kremlfreundlichen Desinformationsökosystem).

Im Kontext der Ukraine nimmt das kremlfreundliche Narrativ der „verlorenen Souveränität“ eine noch finsterere, imperialistischere Nuance an. Es leugnet nicht nur die Staatlichkeit der Ukraine, sondern ihre gesamte Existenz mit der Unterstellung, dass „der Staat Ukraine vorher nie existierte“. Dieses Narrativ war neben dem Mythos der „Nazi-Ukraine“ eine der zentralen Desinformationstaktiken zur Rechtfertigung der unprovozierten Invasion der Ukraine durch Russland. Ähnliche Desinformationsnarrative enthalten Behauptungen, dass die Ukrainer, Russen und Belarussen „eine Nation“ sind, sowie mehrere Andeutungen, dass die Ukraine am Rande des Zerfalls steht.

Hier erfahren Sie mehr über das Narrativ der „verlorenen Souveränität“.