Diese Ausgabe des Disinformation Review erscheint an Tag 183 des „dreitägigen Kriegs“ Russlands gegen die Ukraine. Russland führt seit sechs Monaten einen ungerechtfertigten Krieg gegen einen friedlichen Nachbarn, beschießt ukrainische Städte, darunter Krankenhäuser und Schulen, und tötet, foltert und vergewaltigt Angehörige der Zivilbevölkerung. Nach ukrainischen Schätzungen wurden über 5 000 zivile Personen getötet, darunter 361 Kinder.
Nichts davon ist jedoch für die russische Propaganda von Bedeutung, deren manipulative und hasserfüllte Rhetorik für viele der über 28 000 gemeldeten Kriegsverbrechen, die von den russischen Streitkräften in der Ukraine begangen wurden, verantwortlich ist und die versuchte, sie zu verschleiern. Sechs Monate nach der russischen Invasion, die auf den ukrainischen Unabhängigkeitstag fällt, haben kremlfreundliche Experten ein neues Argument für die Aggression gegen die Ukraine gefunden: die Ermordung von Darja Dugina, einer kremlfreundlichen Expertin und Tochter des russischen Philosophen und Ultranationalisten Alexander Dugin.
Russland gegen die Vernichtung
Die Ermordung von Darja Dugina durch eine Autobombe in Moskau ist ebenso grausam wie düster. Der russische Geheimdienst FSB gab bekannt, dass das „Verbrechen aufgeklärt“ wurde, und zwar in Rekordzeit. Man beschuldigte den ukrainischen Geheimdienst, die Ermordung in Auftrag gegeben, und eine Mutter mit einem 12-jährigen Kind im Schlepptau, die Tat begangen zu haben. Die angeblichen Beweise, die im russischen Staatsfernsehen ständig präsentiert werden, sind gelinde gesagt zweifelhaft, aber das hat die Propagandisten des Kremls noch nie aufgehalten.
Bereits vor den „Enthüllungen“ des FSB gaben kremlfreundliche Experten der Ukraine die Schuld und behaupteten gleichzeitig, die Tat sei Teil eines Komplotts von Seiten Selenskis zur Provokation eines russischen Luftangriffs auf Kiew (um Moskau schlecht aussehen zu lassen) und ein von der Ukraine durchgeführter britischer Versuch, Russland und die Türkei gegeneinander aufzubringen. In gewohnter Manier wurde behauptet, der britische Geheimdienst stecke hinter dem Attentat. Den angeblichen Beweis lieferte ein Artikel der Daily Mail, dessen Ton den Kreml-Propagandisten missfiel. Estland wurde ebenfalls ohne den geringsten Beweis beschuldigt.
Die Chefredakteurin von RT, die von der EU sanktionierte Margarita Simonjan, veranlasste dies dazu, vorzuschlagen, dass „Fachleute“ „die Türme in der Nähe von Tallinn bewundern“ könnten – ein Hinweis auf die russische Beteiligung an der Salisbury-Vergiftung, die der Kreml bis zum heutigen Tag abstreitet. Es handelt sich im Übrigen bei weitem nicht um das erste Mal, dass die Propagandisten des Kremls verdeutlichen, dass sie sich ihrer Lügen bewusst sind: Die Verbreitung von Desinformation ist kein Versehen oder Fehler, sondern eine Entscheidung.
Solche Anschuldigungen, die im russischen Fernsehen gegen die Ukraine, das Vereinigte Königreich und Estland erhoben wurden, stehen im Einklang mit einem weit verbreiteten Desinformationsnarrativ, dass westliche Geheimdienste es auf Russland abgesehen haben sollen. Sie entsprechen auch den spezifischeren Zielen der kremlfreundlichen Desinformation:
- Die Propaganda des Kremls bezeichnet die Ukraine nun nicht mehr nur als „Nazistaat“, sondern auch als „terroristisches“ Land, um eine neue Welle der Unterstützung im Inland für die fortgesetzte militärische Aggression gegen die Ukraine zu mobilisieren;
- Das Vereinigten Königreich wird als Verkörperung der bösen „Angelsachsen“, die der Ukraine helfen, verunglimpft;
- Estland und die anderen baltischen Staaten werden als feindlich, russophob und Unterschlupf für gefährliche Kriminelle verleumdet.
Kremlfreundliche Desinformationskanäle nutzen die Ermordung, um die Invasion in den Augen der einheimischen Öffentlichkeit besser dastehen zu lassen. Die Botschaft lautet: Niemand ist sicher. Das Attentat wird in den russischen Massenmedien in Verbindung mit der Behauptung dargestellt, die Ukraine wolle ihr eigenes Kernkraftwerk in Saporischschja (weitere Informationen darüber hier) in die Luft jagen. Ziel ist es, ein Bild zu zeichnen, in dem Russland vor einem Vernichtungskrieg steht und der einzige Weg zu überleben die Zerstörung der Ukraine ist.

„60 Minuten“, Fernsehsender Rossiya 1, 22.08.2022
Geschichtsrevisionismus neu aufgelegt
In dieser Woche wurde auch der 83. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Pakts begangen. Wie so oft in der Vergangenheit nutzten die kremlfreundlichen Medien die Gelegenheit zum Geschichtsrevisionismus, indem sie die Rolle der Sowjetunion bei der Unterzeichnung des Pakts mit Nazideutschland und der Auslösung des Zweiten Weltkriegs mit all seinen Folgen herunterspielten und beschönigten. Ähnliche Desinformationsbehauptungen gab es bereits 2021, 2020 und 2019.
Zwischenzeitlich veröffentlichte das russische Außenministerium ein Video auf Twitter, in dem es im Wesentlichen behauptet, dass viele andere Länder, darunter die baltischen Staaten, ähnliche Pakte mit Nazideutschland unterzeichnet hatten. Das russische Außenministerium schweigt jedoch zu den geheimen Protokollen des Pakts, die Europa in „Einflusssphären“ aufteilten – diese Idee hallt in Russland noch immer nach.
Wenn es um den Molotow-Ribbentrop-Pakt geht, sagen die Verbreiter kremlfreundlicher Desinformation gerne, dass die Sowjetunion „keine Wahl“ hatte, ebenso wie auch Russland „keine Wahl“ habe, als jetzt einen brutalen und blutigen Krieg zu führen. Doch in Wahrheit hätten sie die Wahl. Aber sie wählen weiterhin die Gewalt.

Hintergrundbild: Twitter, Russisches Außenministerium